"Samson und Nadjeschda": Das abgetrennte Ohr von Kiew
Kann man heute einen Roman des wichtigsten ukrainischen Schriftstellers Andrej Kurkow vorbehaltlos lesen? Kurkow, 1961 im damaligen Leningrad geboren und in Kiew aufgewachsen, sieht sich selbst als ukrainischen Autor, hat aber seine Bücher stets auf Russisch geschrieben - so auch seinen vor vier Jahren erschienenen Roman "Graue Bienen", in dem er sich schon mit dem Krieg im Donbas auseinandergesetzt hat.
Im Fokus: das angespannte russisch-ukrainische Verhältnis
Kurkows bisweilen etwas verspielt wirkenden Romane waren stets auch politisch, aber nicht mit schwerem agitatorischen Geschütz ausgestattet, sondern subtil und unterschwellig. Wenn man heute seinen 2005 erschienenen Roman "Die letzte Liebe des Präsidenten" zur Hand nimmt, glaubt man in der Figur des Protagonisten Sergej Stepanowitsch, der es vom tagträumerischen Studenten, über einen mittelmäßigen Beamten bis hin zum Regierungschef brachte, deutliche Parallelen zum heutigen Staatspräsidenten Wolodymyr Selenskyj zu erkennen. Im Roman ging es damals wie heute in der traurigen Realität um das angespannte russisch-ukrainische Verhältnis.
Auftakt einer historischen Krimi-Reihe
Gewalt, Macht und wechselnde politische Systeme stehen auch in Kurkows neuem Roman "Samson und Nadjeschda" im Mittelpunkt, mit dem er eine historische Krimi-Reihe eröffnet und der im Jahr 1919 in Kiew spielt. Eine Begegnung mit einer Leserin hat Kurkow zu diesem neuen Projekt inspiriert: "Sie hat mir das Archiv ihres Vaters geschenkt, der sein ganzes Leben für den Geheimdienst gearbeitet hat, zuerst für den KGB, und später für den ukrainischen Geheimdienst SBU. Und in dem Konvolut fand ich ganz viele Originaldossiers aus dem Jahr 1919", berichtet der 61-jährige Schriftsteller.
Dramatischer Einstieg
"Der linke Arm seines bereits toten Vaters stieß ihn zur Seite, und so traf der nächste Hieb nicht Samsons rothaarigen Kopf, aber auch nicht daneben - er schlug ihm das rechte Ohr ab." So dramatisch eröffnet Kurkow den Roman um den seltsam entrückt wirkenden Protagonisten Teofilowitsch Koletschko, der von seinen Eltern "Samson" genannt wurde, weil sie sich einst am Samson-Brunnen kennengelernt hatten.
Der russische Bürgerkrieg tobt
Kiew versinkt in einem politischen Chaos, der russische Bürgerkrieg tobt, die Bolschewisten wollen sich auch in der Ukraine etablieren. Gewalt wird mit Gegengewalt beantwortet, ein gefährliches Gemisch aus Angst, Verrat und Misstrauen bestimmt den Alltag. Bei der Lektüre laufen unweigerlich aktuelle TV-Bilder aus Kiew und der Ukraine vor dem Auge des Lesers ab.
Nadjeschda schwärmt für die Ideale der Revolution
Samson wird von den Bolschewiken rekrutiert. Der unpolitische Stoiker soll zunächst Diebstähle und kleinere Delikte untersuchen, schnell wird er jedoch mit mehreren Morden konfrontiert. Bei der Aufklärung soll ihm die junge Nadjeschda helfen, die für die Ideale der Revolution schwärmt und in der Statistikbehörde des Gouvernements beschäftigt ist. Vor allem aber, und da setzt wieder einmal Kurkows Affinität zur Fantastik ein, hilft ihm sein abgetrenntes Ohr.
Das Ohr hört weiter
Samson war es gelungen, sein abgeschlagenes Ohr aufzufangen und in seinem Schreibtisch zu deponieren. Kurkow lässt das Ohr kurzerhand weiterhören, noch viel intensiver als zuvor. So kommt er auch Anton und Fjodor auf die Schliche - zwei Rotarmisten, die Säcke mit Diebesgut in seine Wohnung geschleppt hatten und überlegten, ihn umzubringen.
Realismus trifft Fantastik
Andrej Kurkow versteht es, mit leichter Hand Realismus und Fantastik zu vereinen und einen wahren Sog zu entfachen. Trotz einiger skurriler und durchaus "grenzwertiger" Sequenzen (ein Augenarzt entfernt nach einer Säbelattacke Blut und ein Hirnstück) kann man sich dieses eruptiven Erzählstroms kaum widersetzen. So bildet zum Beispiel die noch unvollendete Liebesgeschichte zwischen Samson und Nadjeschda eine menschliche Klammer in einer Handlung, in der die Omnipräsenz der Gewalt ein zentrales Motiv ist.
"Ich werde für die Ordnung kämpfen", meinte Volkskommissar Samson, obwohl er als Held gar nicht taugt und ein klein wenig an den braven Soldaten Schwejk erinnert. Und doch bleibt einem das Lachen im Hals stecken angesichts der blutigen Aktualität der Handlung aus dem Jahr 1919.
Andrej Kurkow: "Samson und Nadjeschda" (Aus dem Russischen von Johanna Marx und Sabine Grebing. Diogenes, 368 Seiten, 24 Euro). Kurkow wird aus seinem Roman beim Münchner Literaturfest im November lesen, ein Termin steht noch nicht fest.
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