Lisa Batiashvili: "Russland klare Zeichen geben"
Als Violinvirtuosin genießt die Wahlmünchnerin internationales Renommee. Auf ihrem vielschichtigen neuen Album "Secret Love Letters" wird die 33-Jährige begleitet vom Philadelphia Orchestra und seinem Chefdirigenten Yannick Nézet-Séguin.
AZ: Mit "Secret Love Letters" haben Sie zum ersten Mal ein Album mit einem amerikanischen Ensemble aufgenommen, dem Philadelphia Orchestra. Wie war das?
Lisa Batiashvili: Amerikanische Orchester arbeiten extrem effektiv und effizient. Man kommt schnell ans Ziel. Ich habe in den letzten 15 Jahren viel mit dem Philadelphia Orchestra gespielt, deshalb ist es mir sehr vertraut.
Sie erkunden auf "Secret Love Letters" einige hochromantische Musikstücke von Debussy, Chausson, Franck und Szymanowski.
Zuerst einmal hat Karol Szymanowskis Violinkonzert Nr. 1 mich dazu inspiriert, dieses Album aufzunehmen. Ich habe mich vor vier Jahren in diese unglaublichen Farben, das Leidenschaftliche, Geheimnisvolle und Weibliche, kurzum diese Explosion an Emotionen verliebt. Szymanowski hat sich für die verschiedensten Kulturen interessiert. Sein Violinkonzert empfinde ich als ein sehr poetisches Werk. Auch Ernest Chaussons "Poème" erzählt eine Liebesgeschichte. Und so kam ich auf die Idee, diese Art von Musik aufzunehmen. Mir tat es auch gut, in dieser Zeit einmal der Liebe, dem Menschlichen und dem Unausgesprochenen ein Album zu widmen. Man vergisst manchmal, dass dies vor allem für Kulturschaffende die größte Inspiration überhaupt ist.
"Die Liebe nimmt im Leben meist eine andere Wendung als erwartet"
Szymanowskis Konzert ist dem in Odessa geborenen Geiger Paul Kochanski gewidmet, der in den USA lebte. War dieses Konzert ein Liebesbrief an Kochanski?
Ja, das sagt man. Szymanowski hat seine Homosexualität erst sehr spät öffentlich gemacht. Das war damals und ist heute in vielen Ländern Osteuropas noch ein Tabuthema. In seiner Musik drückt sich das Ungesagte auf leidenschaftliche Weise aus. Das macht sie so besonders. Der Geiger Paul Kochanski war für Szymanowski die Inspiration, dieses Konzert zu schreiben. Er hat dem Komponisten dabei geholfen, sein Werk so geigerisch wie möglich zu gestalten.
Kochanski spielte 1924 die amerikanische Premiere mit dem Philadelphia Orchestra in der Academy of Music in Philadelphia, wo auch Ihre Aufnahme entstand.
In der Academy of Musik spürt man sofort Geschichte. Die trockene Akustik dieses Theaters macht das Aufnehmen aber nicht ganz leicht.
Sie spielen Musik, die von verbotener Liebe erzählt. Steckt diese voller Schmerz und Verzweiflung?
Absolut. Die Liebe nimmt im Leben meist eine andere Wendung als erwartet. Deshalb sind die Geschichten von Komponisten in den letzten Jahrhunderten oftmals unlogisch. In ihnen verstecken sich unerfüllte und geheime Liebe.
Dazu kommt, dass das Violinkonzert Nr. 1 während des Ersten Weltkriegs in der Ukraine geschrieben und im November 1922 in Warschau uraufgeführt wurde.
Dass wir es ausgerechnet jetzt im großen Krieg aufgenommen haben, ist fast ein Zufall. Aber eigentlich herrscht in der Ukraine seit Jahren Krieg. Nicht nur Paul Kochanski, auch viele andere wichtige Künstler stammen aus Odessa, die damals im Namen der Sowjetunion gespielt haben. Genau diese Orte in der Ukraine sind jetzt in Gefahr, zerstört zu werden. Man kann nur hoffen, dass dieser Wahnsinn irgendwann aufhört und zumindest die wichtigen kulturellen Orte für unsere Geschichte erhalten bleiben.
"Ein Gefühl der Solidarität, was Menschen in den Konzertsaal bringt"
Die ukrainische Kultur steht für die Identität der Nation. Daher gehört es zum Kalkül der russischen Aggressoren, sie auszulöschen. Ist dieser perfide Plan bisher aufgegangen?
Ich glaube, genau das Gegenteil passiert. Ich bin mir sicher, dass die Menschen in der Ukraine diesen Fehler Putin und seiner ganzen Regierung nie verzeihen werden. Er wir auch Konsequenten haben. Die Brüderlichkeit, die Putin sich hinter dieser ganzen Geschichte vorgestellt hat, ist total krankhaft. Du bringst ja deinen Bruder nicht um, wenn er sagt, er möchte unabhängig von dir leben. Die Ukrainer fühlen sich seit Jahrhunderten unterdrückt und gehen jetzt aufs Ganze, um dem ein Ende zu setzen. Dadurch gewinnen sie an Idendität, weil die Welt sich über ihr Land und ihre Kultur viel bewusster wird.
Wie groß ist das Interesse des Publikums für die Kulturschaffenden der Ukraine?
Im Moment ist es vor allem ein Gefühl der Solidarität, was Menschen mehr als alles andere in den Konzertsaal bringt. Das finde ich großartig. Auch die Bereitschaft, große Projekte mit ukrainischen Orchestern umzusetzen. Eines konnten wir sogar bei den Audi Sommerkonzerten in letzter Minute realisieren. Das Orchester aus Lwiw war eigentlich das Highlight des Festivals. Ich finde es ganz wichtig, dass wir im Westen so viel für die Künstler in der Ukraine tun. Ich glaube, das wird helfen, die ukrainische Kultur zu retten.
Unter der Protektion Russlands entziehen sich Abchasien und Südossetien der Souveränität Georgiens. Hat die georgische Kultur in diesen besetzten Gebieten viele Versuche der Auslöschung durch Russland erlebt?
Alle Georgier, die dort immer gelebt haben, sind nach Tiflis oder in andere Gebiete des Landes geflohen. Das ist tragisch. Es waren mehr als die Hälfte der Bevölkerung in Südossetien Georgier. Dieser Krieg war sinnlos, weil er Konflikte zwischen Nachbarn geschürt hat, die dort seit Generationen zusammen lebten. In den okkupierten Territorien steht alles still, weil sich keine Regierung wirklich dafür verantwortlich fühlt, um irgendeine Entwicklung auf den Weg zu bringen.
Wäre aus Ihrer Sicht ein Boykott russischer Künstler und Kultur im Westen sinnvoll?
Das ist eine generelle Frage. Wir realisieren gerade, dass Putin sehr viele Unterstützer hat in seinem Land. Das ist ein großes Problem. Wir müssen ein klares Zeichen geben, dass das nicht akzeptabel ist. Und die Menschen in Russland auch. Wer sonst als sie kann irgendetwas verändern? Wir können diese Verantwortung nicht auf uns nehmen. Diese Botschaft ist auch wichtig für Russen, die ihr Land bereits verlassen haben, weil sie auch unter diesem Krieg leiden. Sie profitieren ja vom Westen. Heutzutage hat man keine andere Wahl als die Wahrheit zu sagen und der Realität ins Auge zu sehen.
Russische Soldatenmütter könnten theoretisch viel tun, um diesen Krieg zu beenden.
Das würde der gesunde Menschenverstand verlangen. Ich frage mich, wieso das noch nicht passiert ist, weil schon so viele junge Leute gestorben sind - für nichts. Wirklich grundlos. Dass die Menschen in Russland das hinnehmnen, kann ich nicht verstehen. Dass die Ukrainer selbst sterben, akzeptieren sie, weil sie ihr Land vor den Russen beschützen müssen. Aber warum stirbt ein Kind, ein russischer Soldat, der Zivilisten angreift? Deshalb hoffe ich, dass sich in Russland bald etwas verändert.
Die Bundeswehr soll eine Finanzspritze von 100 Milliarden Euro bekommen. Sehen Sie auch darin eine gesellschaftliche Gefahr? Geld, das für Waffen ausgegeben wird, kann für Kultur oder Bildung nicht mehr investiert werden.
Wir haben jetzt auch noch andere Probleme, etwa die Gasversorgung, die Energiekrise. Auch die müssen gelöst werden. Umso wichtiger ist es, keine Schwäche zu zeigen. Deutschland kann das schaffen. Niemand hat erwartet, dass wir jemals in solch eine Krise gelangen. Aber in der Krise findet der Mensch immer eine Lösung. Dafür muss man aber etwas wagen und aus seiner Komfortzone herauskommen. Dieser Druck macht natürlich vielen Angst, aber in der Geschichte hat der Mensch bisher aus jeder Krise etwas gelernt
Es wird oft beklagt, dass das Klassikpublikum immer älter und weniger wird und am Ende sogar ausstirbt. Was muss man tun, um mehr junge Leute in Konzerte zu locken?
Ich glaube, das Publikum stirbt nicht aus. Man muss wahrscheinlich reif für die Klassik sein, um sie wirklich genießen zu können. Aber das kann man auch in jungen Jahren sein. Es kommt auch darauf an, wie man klassische Musik präsentiert und wie Eltern mit ihren Kindern umgehen. Die Musik müsste für jeden zu einem Teil des Lebens werden. Ich hoffe da auf die neue Generation, die die Fähigkeit besitzt, auch Menschen anzusprechen, die Angst vor klassischer Musik haben.
Mögen Sie eigentlich auch Pop- und Rockmusik?
Ja natürlich. Ich liebe Jazz und habe Michael Jackson auf seiner letzten Tournee live erlebt. Auch im Pop gibt es geniale Musiker. Gute Musik ist einfach gute Musik, egal ob sie von Mozart oder Charlie Chaplin geschrieben wurde.
Die CD "Secret Love Letters" erschien bei der Deutschen Grammophon. Am 2., 3. und 4. März spielt Lisa Batiashvili mit dem BR-Symphonieorchester das Violinkonzert von Jean Sibelius in der Isarphilharmonie