Kritik

"Das Leben vor uns": Der Kirschgarten der Freiheit

Eine Jugend in Moskau und das Ende der Sowjetunion: Kristina Gorcheva-Newberrys Debüt-Roman "Das Leben vor uns".
Roberta De Righi |
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Kristina Gorcheva-Newberry.
Kristina Gorcheva-Newberry. © Ivan Morozov

Als Leonid Breschnew im November 1982 zu Grabe getragen wird, lassen die Träger den Sarg in die Grube poltern. Für Großmutter Ranewa ein schlechtes Omen. "Als Breschnew starb, wurden wir vierzehn", notiert ihre Enkelin Anja, Ich-Erzählerin am Anfang von Kristina Gorcheva-Newberrys Roman-Debüt "Das Leben vor uns" über eine Jugend in Moskau und das Ende der Sowjetunion.

"Der Obstgarten" wird zu "Das Leben vor uns"

Das Buch der in Moskau geborenen und 1995 in die USA ausgewanderten Autorin erscheint jetzt auf Deutsch. Im Original heißt es "Der Obstgarten", erschien im März und ist eine aktualisierte Version von Anton Tschechows Drama "Der Kirschgarten". Nicht nur, was die Protagonisten angeht: Das sind neben Anja (die Tochter von Tschechows Gutsbesitzerin heißt Anja Ranjewa) ihre beste Freundin Milka und die Lover der beiden, Lopatin und Trifonow. Letztere ähneln dem ewigen Studenten Trofimov und dem Geschäftsmann Lopachin im "Kirschgarten". Die Liebe zu den Mädchen schweißt sie zusammen, doch sie tragen den Klassenkampf mit Worten und Fäusten aus: Lopachin, Sohn ehemaliger Bauern und strammer Kommunisten und der melancholische Mahner Trifonov aus einer Intellektuellenfamilie.

Milka wiederum, von Anja liebevoll verehrt, ist klug, abgebrüht und traumatisiert: Sie wächst bei ihrer Mutter und dem Stiefvater auf - der sie über Jahre sexuell missbraucht. Damit liegt ein Schatten über der Geschichte, dessen Düsternis sich verdichtet.

Gorcheva-Newberry erzählt die packende Coming-of-Age-Geschichte zweier Mädchen in der zerfallenden UdSSR. Sie lieben Freddie Mercury, tragen Jeans - und fahren ins Pionierlager auf die Krim. Sie hoffen auf eine Zukunft in Freiheit und Wohlstand, träumen von Rom und Paris und wollen niemals heiraten.

"Das Leben vor uns" - packend und autobiographisch gefärbt

"Das Leben vor uns" ist ein klassisch erzählter, mit pointierten Dialogen packender Roman. Er ist - nicht im Plot -, aber in Aussagen und Beobachtungen autobiographisch gefärbt, wie die Autorin in einem Interview erklärte. Die politische Entwicklung wird in den Diskussionen von Anjas Eltern miterzählt. Beide gehören zur Intelligenzija, arbeiten als Raumfahrt-Ingenieure - und sind nie einer Meinung. Während die Mutter kritisch auf die wechselnden Machthaber und ihre korrupten Steigbügelhalter blickt, versucht der zunehmend verzweifelte Vater, seine kommunistische Gesinnung hochzuhalten.

Stalins Teufelswerk und Chruschtschows Beitrag, alles kommt aufs Tapet. Doch der Vater hasst den Westen. Ihre eskalierenden Streitereien werden nur durch die erblindende Großmutter eingefangen. Sie hat die 900 Tage der deutschen Blockade von St. Petersburg miterlebt, ihr Sohn ist dabei gestorben.

Auf Breschnew folgen kurz hintereinander Andropow, Tschernenko und schließlich 1985 Gorbatschows Perestroika. Weil die Zeiten sich so schnell ändern, fällt in der Schule die Geschichtsprüfung aus. Die Lebensumstände werden währenddessen auch für die Ranewas immer schwieriger.

Eine Gesellschaft im permanenten Ausnahmezustand

Wie Tschechow beschreibt Gorcheva-Newberry gesellschaftlichen Wandel und Untergang einer Epoche - nur eben hundert Jahre später. Der Obstgarten ist jetzt eine Datscha bei Moskau mit Apfelbäumen, auf die es um die Jahrtausendwende, die Immobilien-Haie abgesehen haben. Anders als im "Kirschgarten" tragen die Bäume aber noch Früchte.

Die schillerndste Figur, im Roman ist Lopatin, zwielichtiger als Lopachin bei Tschechow. Ein junger Mann, der seine Freunde bestiehlt - und über den Tod hinaus ehrt. Er ist charismatisch und skrupellos, so treu wie betrügerisch. Er gehört später zu den Käufern der Datschen und nennt sich einen "alten Russen mit neuem Geld". Putins Silvesterrede 2007 kommentiert er: "Wenn der Dritte Weltkrieg ausbricht, werden die Russen ihm folgen. Sie werden für ihn sterben, so wie früher für Stalin."

Lopatin wird zum Profiteur des System-Absturzes - und verteidigt paradoxerweise die alten Werte. So bietet "Das Leben vor uns" ohne zu viel Raunen von der "russischen Seele" den Blick auf eine Gesellschaft im permanenten Ausnahmezustand, die vom Zerrbild alter Größe an den Abgrund geführt wird.


Kristina Gorcheva-Newberry: "Das Leben vor uns" (C.H. Beck, 358 Seiten, 25 Euro)

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