Neues Buch "Offene Wunden Osteuropas": Orte der Erinnerung
Den Bayerischen Buchpreis haben die beiden Autorinnen erhalten und andere Preise dazu. Das hat mit der plötzlichen Aktualität des Themas nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine zu tun.
Aber die Ehrungen wären auch sonst berechtigt: "Offene Wunden Osteuropas" von Katja Makhotina und Franziska Davies ist im besten Sinn populärwissenschaftlich: Das Buch bereitet ein schwieriges Thema gut lesbar auch für Nicht-Experten auf, ohne es ungebührlich zu vereinfachen.
Die Autorinnen lehren osteuropäische Geschichte an den Unis in Bonn und München. Mit Studierenden haben sie Gedenkorte zur Zeit des Zweiten Weltkriegs in Belarus, der Ukraine, Litauen, Polen und Russland besucht. Dort trafen sie die letzten noch lebenden Zeitzeugen einer Zeit der doppelten Besatzung durch die Wehrmacht und die Rote Armee.
"Offene Wunden Osteuropas" ist unpathetisch und nüchtern geschrieben
Diese persönlichen Begegnungen bereichern dieses Buch über die gewalttätige Geschichte Osteuropas im 20. Jahrhundert. Nicht umsonst prägte der amerikanische Historiker Timothy Snyder für die Zone zwischen Warschau, Lemberg, Kiew, Minsk, Moskau und St. Petersburg den Begriff "Bloodlands". "Offene Wunden Osteuropas" ist ein Buch voller Leichen und Gräber. Meist waren Deutsche die Täter, teilweise hatten sie - was Snyder unterschlug - auch einheimische Helfer. Davor wurde die Gegend von Pogromen und Bürgerkriegen erschüttert. Und das Ende des Zweiten Weltkriegs bedeutete kein Ende von Verhaftungen, unwillkürlichen Hinrichtungen und Deportationen.
Katja Makhotina und Franziska Davies schreiben über düstere Themen. Aber ihr Buch verbreitet keinen Pessimismus. Es ist unpathetisch und nüchtern geschrieben. Dass die Autorinnen mit jüngeren Menschen unterwegs waren, macht ihr Buch trotz der Thematik lebenszugewandt. Das Schlusskapitel formuliert Perspektiven für die jüngere Generation: Aus der gemeinsamen Erinnerung kann ein neues europäisches Bewusstsein entstehen.
Katja Makhotina und Franziska Davies: Es reicht nicht, Erinnerungen zu vertrauen
Die Autorinnen liefern dafür auch eine praktische Anleitung: Sie laden dazu ein, sich mit der Geschichte der eigenen Groß- und Urgroßeltern zu beschäftigen. Ein Großvater der einen Autorin entkam knapp der Blockade Leningrads durch die Deutschen, sein Cousin überlebte als einziger den Holocaust. In der anderen Familie arbeitete ein Großvater an der "vollständigen Beschlagnahme des gewerblichen polnischen und jüdischen Vermögens zu Gunsten des Reiches".
Katja Makhotina und Franziska Davies machen in diesem Zusammenhang aber auch klar, dass es nicht ausreicht, Erinnerungen zu vertrauen: "Über seine Zeit als Wehrmachtssoldat an der West- und Ostfront wissen wir nichts. Und das Wissen, das wir haben, stammt nicht etwa aus dem Familiengedächtnis, sondern ist das Ergebnis einer Archivrecherche", heißt es über einen der Großväter.
Im Vernichtungslager Belzec ermordeten die SS und ihre Helfer fast eine halbe Million Menschen
Die aus familiären Erfahrungen, Reisen und akademischer Osteuropaforschung gewonnene perspektivische Vielfalt ist die Stärke des Buchs. Komplexe Themen wie die Warschauer Aufstände, das Massaker von Babyn Jar, die Belagerung Leningrads und die Schlacht von Stalingrad werden knapp, aber trotzdem der Komplexität angemessen behandelt. Aber die Autorinnen haben auch weniger bekannte Ziele besucht: Kaum jemandem dürfte das Vernichtungslager Belzec bekannt sein, wo die SS und ihre Helfer fast eine halbe Million Menschen ermordeten.

Kollaboration von Polen und Ukrainern mit den Deutschen wurde verschwiegen
In der von Antisemitismus nicht freien Zeit der kommunistischen Herrschaft war die Erwähnung der Shoah tabuisiert: Statt von Juden sprach man lieber von "friedlichen sowjetischen Bürgern". Die Kollaboration von Polen, Ukrainern mit den Deutschen wurde ebenfalls verschwiegen. Und auf deutscher Seite wurden in der Nachkriegszeit Kriegsverbrechen der Wehrmacht juristisch nur unzureichend aufgearbeitet.
Die Nüchternheit im Angesicht des Grauens ist eine Stärke des Buchs. Anders ließe sich der Inhalt auch kaum aushalten, wenn etwa geschildert wird, wie vor dem Rückzug der Wehrmacht am Ende des Krieges die Massengräber noch einmal geöffnet wurden, um zur Verwischung von Spuren die Leichen zu verbrennen.
Die Autorinnen verfolgen auch Lebenswege deutscher Täter
Der eine oder andere Münchner mag schon davon gehört haben, dass die meisten Juden dieser Stadt 1941 von einem Sammellager in Allach nach Kaunas deportiert wurden und dort umkamen. Katja Makhotina und Franziska Davies haben die Gedenkstätte im "Neunten Fort" besucht: Diese Seiten gehören zu dem Bedrückendsten, das in diesem Buch zu lesen ist.
Die Autorinnen verfolgen auch Lebenswege deutscher Täter und blicken auf hiesige Friedhöfe, wo sich in der Nähe von Müllplätzen bisweilen Gräber von Zwangsarbeitern befinden. Sie hinterfragen den Versuch der Nachkriegszeit, die Niederlage von Stalingrad in einen deutschen Opfermythos zu verwandeln. Aber auch die sowjetische Stilisierung kommt zur Sprache, etwa am Beispiel einer Formulierung des Schriftstellers Wassili Grossmann. Er sprach im Zusammenhang mit dem Sieg nüchtern davon, die Soldaten hätten "die Sache erledigt", während die auf das gleiche Zitat zurückgehende Monumentalinschrift in der Gedenkstätte von der Pflichterfüllung gegenüber der "Mutter Heimat" spricht.
Als dieses Zitat gemeißelt wurde, war der Autor längst tot und sein aus politischen Gründen unterdrückter Stalingrad-Roman noch immer unveröffentlicht. "Offene Wunden Osteuropas" zeichnet ein schattiertes Bild mit vielen Grautönen: Denn Erinnerung lebt von Vielfalt und teilweise auch vom Konflikt um die Deutungshoheit, weil Geschichte immer und überall für die Gegenwart instrumentalisiert wird.
Die Autorinnen konnten das Vorwort ihres Buchs nach dem russischen Überfall noch erweitern. Ihr Vertrauen in die seit dem Euro-Maidan gewachsene ukrainische Demokratie ist groß. Auch deshalb ist "Offene Wunden Osteuropas" eine zentrale Neuerscheinung für alle, die sich für Geschichte und ihre Wirkung auf das aktuelle Geschehen interessieren. Dass im Zusammenhang mit dem Massaker von Babyn Jar zwar das Gedicht von Jewgeni Jewtuschenko erwähnt wird, nicht aber die Symphonie Nr. 13 von Dmitri Schostakowitsch, die zumindest Konzertbesuchern dieses deutsche Kriegsverbrechen bekannt gemacht hat, ist ein kleiner, aber lässlicher Fehler dieses wichtigen Buchs.
Katja Makhotina und Franziska Davies: "Offene Wunden Osteuropas" (WBG Theiss, 288 Seiten, 28 Euro)
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