Zum Tod von Hans Magnus Enzensberger: Meister der ironischen Distanz

Hans Magnus Enzensberger, der bekannteste und einflussreichste deutsche Autor im Ausland, starb im Alter von 93 Jahren.
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In einem seiner klassischen Essays bezeichnete Hans Magnus Enzensberger das Fernsehen als "Nullmedium".
In einem seiner klassischen Essays bezeichnete Hans Magnus Enzensberger das Fernsehen als "Nullmedium". © IMAGO/Wolfgang Maria Weber

München - Es gibt für den Auftritt Hans Magnus Enzensbergers auf der Bühne des deutschen Geistes keinen anderen Vergleich als die Erinnerung an das Erscheinen von Heinrich Heine", urteilte Alfred Andersch vor 62 Jahren.

Hans Magnus Enzensberger: Zuletzt lebte er in Schwabing

Da war Enzensberger, der drei Jahre zuvor die literarische Bühne mit dem Gedichtband "Verteidigung der Wölfe" betreten hatte, schon das Junggenie der deutschen Literatur.

Zuletzt lebte der Autor in Schwabing, nicht weit entfernt vom Englischen Garten. In "Fallobst" hatte sich Enzensberger vor drei Jahren auch über den Lebensabend Gedanken gemacht. "Jetzt gleiche ich einem Autoreifen, aus dem langsam die Luft entweicht", notierte er und sprach von der "Kunst, sich langsam und möglichst unauffällig vom Leben zu verabschieden".

Hans Magnus Enzensberger: Prägender Autor der bundesdeutschen Nachkriegsliteratur

Am Donnerstag starb Enzensberger im Alter von 93 Jahren in München.Der Schriftsteller zählte neben Günter Grass, Martin Walser, Uwe Johnson und Heinrich Böll zu den prägenden Autoren der bundesdeutschen Nachkriegsliteratur. Kulturstaatsministerin Claudia Roth nannte ihn gestern einen "Solitär unter Deutschlands Dichtern und Denkern".

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Geboren wurde Enzensberger 1929 in Kaufbeuren im Allgäu. Seine Kindheit verbrachte er in Nürnberg. Aus der Hitlerjugend wurde er mit der Begründung ausgeschlossen, er sei trotzig und ein Querulant. Während sich der älteste von vier Söhnen eines Oberpostdirektors und einer Kindergärtnerin als Schwarzhändler und Barmann durch die Besatzungszeit schmuggelte, sah er bald um sich herum ein neues Land entstehen, in dem allzu schnell das Gras über die dunkle Geschichte zu wachsen schien.

Hans Magnus Enzensberger: "Es ist kein vielversprechender Beruf, Deutscher zu sein"

Der Zorn darüber ist in seinem Frühwerk überdeutlich. Nach dem 1949 in Nördlingen absolvierten Abitur ging er nach Paris, desillusioniert vom viergeteilten Deutschland, das er als "moralische Wüste" empfand. Es sei "kein vielversprechender Beruf, Deutscher zu sein", erinnerte er sich und in seiner "Verteidigung eines Agnostikers" notierte er: "Ich wollte lieber schreiben." Der Nachteil: Ein Gefühl, dass er "nirgendwo voll und ganz dazugehört".

Hans Magnus Enzensberger: Die Kommune I lebte eine Zeitlang in seinem Haus

Bis 1957 arbeitete Enzensberger für Alfred Andersch als Hörfunkredakteur beim Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart. Daneben mischte er als "junger Wilder" in der Nachkriegsliteratur mit, etwa in der "Gruppe 47" oder bei den rebellischen 1968ern.

Es waren bewegte Jahre, in denen Enzensberger vieles ausprobierte. Die Kommune I lebte eine Zeitlang in seinem Haus. "Das war am Anfang noch ein relativ flotter Haufen, der mich interessierte. Diese Bande hatte versucht, sich bei mir einzunisten, aber ich habe sie rausgeschmissen", sagte er rückblickend.

"Bewusstseinsindustrie" wird zu Enzensbergers Lieblingsthema

Die bundesdeutschen Medien waren in diesen Jahren jung und mächtig, aber Enzensberger legt sich trotzdem mit ihnen an. Er kritisierte die Sprache des "Spiegel" und wird später dessen höchstbezahlter Essayist. Er ging mit der "FAZ" ins Gericht, analysierte das Fernsehen, die "Bild" und den Quelle-Katalog.

Seit Brecht hatte sich niemand mehr mit der "Bewusstseinsindustrie" ähnlich klug auseinandergesetzt. Sie wird zu Enzensbergers Lieblingsthema und Spielplatz. In seinen letzten Jahren warnte Enzensberger vor "unheilvollen Verbindungen von Geheim- und Nachrichtendiensten und Internet-Konzernen": "Die Rolle des Blockwarts und des Denunzianten haben Millionen Überwachungskameras und Mobiltelefone übernommen."

Enzensberger verbrachte einige Zeit im kommunistischen Kuba

Mit linkem Dogmatismus konnte er nicht viel anfangen. Sein messerscharfer Verstand erlaubte ihm nicht, unhaltbare Positionen lange zu besetzen. Über seine Zeit in der Außerparlamentarischen Opposition (APO) gegen die Große Koalition in Bonn in den 60er Jahren gibt eines seiner Erinnerungsbücher mit dem vielsagenden Titel "Tumult" Auskunft. In dieser Zeit gründete er auch 1965 das Kulturmagazin "Kursbuch".

Es waren bewegte Jahre, in denen Enzensberger vieles ausprobierte. Er war Verlagslektor bei Suhrkamp in Frankfurt, verbrachte einige Zeit im kommunistischen Kuba, lebte in Norwegen, Italien, Mexiko, den USA und West-Berlin und kam schließlich 1979 nach München.

Enzensberger nannte Saddam Hussein einen "Wiedergänger Hitlers"

Enzensberger schrieb und schrieb: Romane, Essays, Anekdoten, Erinnerungen und Dramen. Er blieb ein Reisender und veröffentlichte 1989 den Band "Ach, Europa". Zwei Jahre später kassierte er viel Kritik, als er Saddam Hussein einen "Wiedergänger Hitlers" nannte. Sein Buch "Schreckens Männer" charakterisiert islamische Selbstmordattentäter als radikale Verlierer. Die arabische Welt sei eine Zivilisation, die im Mittelalter den Europäern weit überlegen gewesen sei, sich aber gegenwärtig in einer unproduktiven Periode befinde.

Kindern wollte er mit "Der Zahlenteufel" die Mathematik näher bringen. Jugendlichen widmete er Bücher wie "Immer das Geld: Ein kleiner Wirtschaftsroman" oder "Lyrik nervt". Daneben schrieb er Gedichte und Balladen. Nach dem linken "Kursbuch" gab er die postmoderne Postille "Transatlantik" heraus, mit der "Anderen Bibliothek" fand er eine Möglichkeit, die Bücher zu publizieren, die er entdeckt hatte.

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Enzensberger: "Damen, deren Avancen zurückgewiesen werden, gleichen tückischen Tellerminen"

Nicht alles erschien unter seinem Namen. Als Andreas Thalmayr veröffentlichte Enzensberger ebenso Werke wie etwa unter dem augenzwinkernden Pseudonym Serenus M. Brezengang, das aus den Buchstaben seines echten Namens besteht. Er selbst beherrschte ein halbes Dutzend Sprachen, in mehr als 40 wurden seine Werke übersetzt.

Aus seiner Anfangszeit ist ihm bis zuletzt das spitzbübische Lächeln und die schwerelose Heiterkeit geblieben. 2016 ließ er sich von falschen Freunden für eine Kampagne zugunsten des mittlerweile verurteilten Ex-Präsidenten der Münchner Musikhochschule einspannen. "Damen, deren Avancen zurückgewiesen werden, gleichen tückischen Tellerminen. Ihre Rachsucht sollte man nie unterschätzen", schrieb er damals in einem Leserbrief - ein Missgriff, wie er liberalen älteren Herren im Zusammenhang mit #MeToo-Debatten leider öfter passiert.

Enzensberger: Ohne Migration verödet jede menschliche Gesellschaft

Das war umso erstaunlicher, weil Enzensberger die längste Zeit seines Lebens ein untrügliches Gespür für Trends und Tendenzen hatte: "Er hat die Nase im Wind", sagte Jürgen Habermas über ihn. Das machte ihn angreifbar. Trotzdem sind viele seiner Essays Enzensbergers in ihrer ironischen Distanz gut gealtert: etwa in seine Ansichten zur Migration.

Ohne sie würde jede menschliche Gesellschaft veröden, trotz aller Konflikte und Schwierigkeiten, heißt in seinem letzten Buch "Fallobst". "Unsere Literatur und unsere Sprache wären ohne ihre Aus- und Einwanderer ein trostloses Heimspiel geblieben." Und das ist klüger als das Gerede vieler älterer Sprachpäpste, an denen es in diesem Land nicht fehlt.

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