"Georgisches Reisetagebuch": Vorne Tschaikowsky, im Hinterhof georgische Geiseln
München - Wenn von der Nähe des ehemaligen Chefdirigenten der Münchner Philharmoniker zur Politik und der Person von Vladimir Putin die Rede ist, wird regelmäßig ein Konzert in den Ruinen von Zchinwali erwähnt. Das ist weit weg - im Süden des Kaukasus. Und welcher halbwegs zuverlässige Zeuge will wissen, was 2008 passiert ist, als Krieg zwischen Georgien und Russland herrschte?
Es gibt diesen Zeugen: den französischen Schriftsteller Jonathan Littell. Bevor er den Holocaust-Roman "Die Wohlgesinnten" schrieb, beobachtete er als Mitarbeiter einer französischen Hilfsorganisation militärische Konflikte in Bosnien, Afghanistan und Tschetschenien, wo er 2001 verwundet wurde.

Im August 2008 reiste er im Auftrag von "Le Monde" nach Georgien. Seine Reportage erschien dort, noch im gleichen Jahr folgte eine deutsche Übersetzung als 50-seitige Broschüre unter dem Titel "Georgisches Reisetagebuch".
Russland auf Kriegsfuß: Geschichte wiederholt sich
Wer dieses heute vergriffene, aber antiquarisch erhältliche Heft liest, erlebt ein komplettes Déjà-vu des gegenwärtigen Kriegs in der Ukraine. Auch der Konflikt um Süd-Ossetien beruht auf einer Grenzziehung der Sowjet-Ära in einem ethnisch gemischten Gebiet. Die Russen beschuldigen die Georgier, den Krieg begonnen zu haben und zu den vielen fadenscheinigen Rechtfertigungen gehört auch der Vorwurf, der georgische Präsident sei "drogensüchtig".
Littell hört beiden Seiten zu, lässt aber durchblicken, dass er die Georgier für glaubhafter hält, unter anderem auch deshalb, weil sie eigene Recherchen zulassen und den Beobachter nicht gängeln. Auf russischer Seite herrschen unklare Befehlsstrukturen, das Militär ist in obskure Geschäfte verwickelt. Der Krieg wird ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung geführt, es wird geplündert, landwirtschaftliche Flächen werden aus Zerstörungslust unbrauchbar gemacht, offenbar arbeitet das Militär auch Tötungslisten ab. Für die Drecksarbeit gibt es außerdem noch irreguläre Truppen, die auch vor Plünderungen nicht zurückschrecken.
Konzert in den Ruinen des örtlichen Parlamentsgebäudes
Und dann kommt der "Höhepunkt dieser Magical Mystery Tour", wie es Littell nennt: das Konzert des Orchesters des Mariinsky-Theaters St. Petersburg unter Valery Gergiev in den Ruinen des örtlichen Parlamentsgebäudes. Die Georgier hätten jahrelang versucht, den aus Nord-Ossetien stammenden Dirigenten für ein Versöhnungskonzert zu gewinnen, so der Autor. In Zchinwali habe er dann - auf russisch und englisch - den von Georgiern begangenen "Völkermord" beklagt und mit den Anschlägen vom 11. September 2011 verglichen.
Kurz vor dem Konzert mit Werken von Tschaikowsky und Schostakowitsch besucht Littell eine Toilette. "Während ich warte, blicke ich aus dem Fenster. Direkt unter mir, in einem Hof, der in eine Art großen Käfig verwandelt worden ist, sind 40 oder 50 Zivilisten zusammengepfercht, augenscheinlich Georgier, die Haare der meisten von ihnen erkennbar schütter und weiß." Dann wird die Toilette frei, und ein russischer Offizier entschuldigt sich mit den Worten "Die Verhältnisse hier lassen zu wünschen übrig".
Littell will Fotos mit dem Handy gemacht haben. Im weiteren Verlauf seines Berichts ist dann vom Austausch von Gefangenen die Rede. Es mag durchaus sein, dass Gergiev nichts von den Geiseln im Parlamentsgebäude gewusst hat, auf dessen Stufen er dirigierte. Erklärt hat er sich zu diesem Bericht nie, gefragt wurde er allerdings auch nicht. Man hätte Littells Büchlein früher lesen sollen.
Jonathan Littell: "Georgisches Reisetagebuch" (Berlin Verlag, 56 S., vergriffen)