Interview

"Ein Leben lang": Fall Böhringer wird zur Romanvorlage

Der neue Roman von Christoph Poschenrieder hat einen der aufwühlendsten Mordprozesse Münchens als Vorbild.
Philipp Seidel
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Tatort in der Wirklichkeit: Die Parkgarage Böhringer, über der sich das Penthouse befindet.
Tatort in der Wirklichkeit: Die Parkgarage Böhringer, über der sich das Penthouse befindet. © imago/Michael Westermann

Gerade könnte in dem Fall des Mordes an der Millionärin Charlotte Böhringer von 2006 neue Bewegung kommen. Eine Zeugin hat womöglich falsch ausgesagt. Im Gefängnis sitzt für den Mord an seiner Tante ihr Neffe. "Ein Leben lang" nimmt den Fall für die Frage, was eine Mordanklage mit dem Freundeskreis macht, aus dem der Angeklagte stammt.

AZ: Herr Poschenrieder, was haben Sie damals vom echten Fall Böhringer mitbekommen?
CHRISTOPH POSCHENRIEDER: Näher beschäftigt habe ich mich mit dem Fall erst, als meine Frau sich 2008 mit dem Thema für ihren Dokumentarfilm "Anklage Mord: Ein Freund vor Gericht" befasst hat. Es ging mir aber nie um den Kriminalfall und seine Aufklärung, sondern darum, was es für die Freunde bedeutet und was es aus einem Freundeskreis macht, wenn von heute auf morgen einer herausgerissen wird - mit einer heftigen Anklage.

Christoph Poschenrieder wurde 1964 in Boston geboren. Er ist als Journalist und Schriftsteller bekannt geworden - unter anderm durch seinen Roman "Die Welt im Kopf" (2010).
Christoph Poschenrieder wurde 1964 in Boston geboren. Er ist als Journalist und Schriftsteller bekannt geworden - unter anderm durch seinen Roman "Die Welt im Kopf" (2010). © Harald Krichel

Wir lesen, wie dieser Eine aus der Mitte des Freundeskreises ins Scheinwerferlicht gezogen wird und die Freunde zunächst geschlossen auftreten. Und wie sich allmählich die Positionen der Mitglieder dieses Zirkels verändern.
Da hat im Grunde meine schriftstellerische Phantasie eingesetzt. Es ist eine romanhafte Nachstellung einer Situation. Die Idee war, dass es von Anfang an vielleicht Zweifel gegeben hat, die aber durch den notwendigen Zusammenhalt der Gruppe unterdrückt oder nicht geäußert worden sind. Um zu bestehen, tendiert die Gruppe zu einer einheitlichen Meinung, wie die meisten Gruppen.

Keine einfache Nacherzählung des Mordfalls Böhringer

Ich war mal Teil einer Gruppe, der man vorgeworfen hat, Autoreifen zerstochen zu haben. Da musste ich mich fragen: Traue ich das einem meiner Freunde zu? Diese Beobachtung habe ich in Ihrem Buch wiedergefunden.
Ich glaube, das ist eine Erfahrung, die viele machen - gerade in der Jugend gibt es mannigfaltige Situationen, in denen man Gelegenheit erhält, für seine Freunde einzustehen. Aber das sind natürlich meist andere Situationen als in meinem Buch.

Sie machen ja auch aus der ermordeten Tante einen Onkel.
Jeder, der in den letzten Jahrzehnten in München großgeworden ist, kennt natürlich den Fall. Eine gewisse Verfremdung ist schon angebracht, damit man nicht denkt, das wäre eine Nacherzählung. Das Buch ist ohne Kenntnis des Falls als eine Parabel auf ein Was-wäre-wenn-dir-sowas-passiert zu lesen. Der unglaubliche Fall ist ja, dass einer deiner Freunde mit einer brutalen Geschichte konfrontiert wird und du ohne es zu wollen da mit hineingezogen wirst.

Der echte Verurteilte sitzt in Straubing im Gefängnis. Haben Sie Kontakt zu ihm aufgenommen?
Nein. Worüber hätte ich mich mit ihm unterhalten sollen? Über seine Freunde und den Mordfall? Und den Status schuldig oder unschuldig ausklammern? Das hätte nicht funktioniert.

Ist die Zusammensetzung des Freundeskreises erfunden?
Der echte Freundeskreis war viel größer. Meine Figuren sind aber typisiert. Es gibt zwei, Till und Sebastian, die sind die eisernen Verteidiger des späteren Verurteilten, dann gibt es die Unentschlossene, Emilia, die mal zur einen, mal zur anderen Seite tendiert, und es gibt als leisen Zweifler am Betrieb Benjamin, den Juristen. Und die Kritische, Sabine, die am frühesten fragt, ob man sich bei der Art, mit dem Fall und dem Freund umzugehen, nicht selbst in die Tasche gelogen hat. Ob man nicht anders hätte vorgehen können und dem Mann die Höchststrafe hätte ersparen können.

Die feine Linie zwischen Fakt und Fiktion

Der Freundeskreis ist präsent im Gerichtssaal und sucht nach Zeugen, um die Unschuld des Freundes zu beweisen.
Was mich bei dem Buch eigentlich umtreibt: Es ist ja nicht nur der Druck in der Gruppe, der sich bemerkbar macht. Es gibt auch einen Druck auf den Angeklagten. Der muss ja jeden Morgen aufstehen und in den Spiegel schauen. Und dann sieht er im Gerichtssaal seine Freunde und die Erwartungen, die sie ihm entgegenbringen, ihre selbstverständliche Annahme, dass er es nicht getan haben kann.

Aus dem Penthouse, in dem der Mord geschehen ist, soll eine Eventlocation werden. Wird man Sie dort antreffen - vielleicht schon aus Neugier?
Nein. Da halte ich mich fern. Ich weiß natürlich, wo das ist, ich radel öfter mal vorbei an dem Parkhaus. Da braucht man keine Vor-Ort-Recherche.

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Es gibt natürlich trotzdem einen True-Crime-Aspekt an Ihrem Buch. Durch den realen Hintergrund erhält die Geschichte mehr Gewicht.
Das ist auch beabsichtigt. Sonst hätte ich es völlig verfremden können. Das ist die feine Linie von Fakt und Fiktion, wo man nie weiß, ist das jetzt Fakt oder erfunden? Das mache ich ja in den meisten meiner Bücher, da spiele ich mit Versatzstücken aus der Realität und kombiniere sie schamlos mit Erfundenem.


Christoph Poschenrieder: "Ein Leben lang" (Diogenes, 304 Seiten, 25 Euro)

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