Zehn Jahre nach Mord-Urteil: Freispruch für Ulvi Kulac

Richter Michael Eckstein hat genug gehört – und lässt den sechsten Verhandlungstag im Wiederaufnahmeverfahren gegen Ulvi K.lac mit einem Paukenschlag beginnen: Er beendet die Beweisaufnahme vorzeitig und stellt dem Angeklagten einen Freispruch in Aussicht.
Das Urteil soll kommenden Mittwoch verkündet werden, zwei Wochen früher als geplant. Der 13. Jahrestag des Verschwindens der kleinen Peggy aus Lichtenberg – für den Mann, der 2004 als ihr Mörder verurteilt worden war, ist es ein Glückstag. Es dauert ein wenig, bis der geistig behinderte Gastwirtssohn das versteht. Dann legt sich ein Leuchten auf sein Gesicht.
„Um den Angeklagten schuldig sprechen zu können, müssen wir die Überzeugung gewinnen und begründen können, dass er die Tat begangen hat“, sagt der Vorsitzende. Das wichtigste Beweismittel sei Ulvis – später widerrufenes – Geständnis. Im ersten Prozess hatte der Berliner Psychiater Hans-Ludwig Kröber Kulacs selbstbelastende Aussage noch für glaubwürdig befunden. „Aber gestern“, gibt Richter Eckstein nun zu bedenken, „hat der Sachverständige ausgeführt, dass es nicht mehr auszuschließen ist, dass der Angeklagte ein falsches Geständnis abgelegt hat.“ Zudem werde die Selbstbezichtigung nicht durch Sachbeweise belegt. „Durch keinen einzigen. Bis heute nicht“, sagt Eckstein.
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Auch am vermeintlichen Tatablauf hegt die Bayreuther Kammer immense Zweifel, anders als 2004 die Kollegen in Hof. Eckstein: „Wenn man sich vorstellt, dass Peggy geflohen ist und Ulvi hinterhergerannt sein soll, mutet es eigenartig an, dass sie den Schulranzen nicht weggeworfen hat. Warum nicht?“ Weder die Tasche des Mädchens noch ihre Leiche wurden je gefunden.
Dass der übergewichtige Ulvi die Kleine auf der Treppe hinauf zur Lichtenberger Burg eingeholt, sich vor sie gestellt, sie herumgedreht und die Stiegen heruntergestoßen haben soll, mute „eigenartig“ an.
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Und dann seien da die Kinderzeugen, die Peggy noch lebend im Dorf gesehen haben. Zu einem Zeitpunkt, als Kulac sie längst ermordet haben soll. Der Richter scheint ihnen zu glauben, vor allem einem jungen Mann, der 2001 als Schülerlotse jobbte: „Der war ja schon ein Jugendlicher.“
Doch wenn Ulvi Kulac Peggy nicht getötet hat, was geschah dann mit der Neunjährigen, die am 7. Mai 2001 auf dem Heimweg von der Schule spurlos verschwand? Die „Soko 1“ ermittelte anfangs unter anderem gegen Erhan Ü., den damaligen Lebensgefährten von Peggys Mutter Susanne K.
Die Vermutung der Fahnder, die bis heute von einigen Prozessbeobachtern geteilt wird: Ü. könnte eine Entführung des Kindes in die Türkei veranlasst haben. Aus Rache, weil ein Vaterschaftstest ergeben hatte, dass Peggys kleine Schwester nicht von ihm war.
Als Indizien dienen zwei SMS. Am 7. Juni 2006 erreichte eine Internetbekanntschaft von Erhan Ü. folgende Nachricht, abgeschickt von seinem Handy: „Ich habe meine Mama schon so lange nicht mehr gesehen.“ Und am 1. Januar 2002 tippte er selbst an Peggys Mutter: „Ich werde handeln. (…) Wenn das zum Laufen kommt, gibt’s kein Zurück mehr. (…) Mit 50 000 DM kann man viel machen.“
Eine Lösegelderpressung?
Bekannt ist, dass Susanne K. panische Angst vor einer Entführung ihrer Tochter hatte. In ihrer Zeugenaussage am Dienstag ist davon allerdings keine Rede mehr. Ja, zu Hause habe nach dem Vaterschaftstest „die Luft gebrannt“, gibt sie zu. Kurz nach Peggys Verschwinden habe man sich deshalb getrennt. Die 50 000 Mark seien ein „Kopfgeld“ gewesen, das Erhan Ü. ausgesetzt habe, „um mich aus dem Weg zu räumen. Er hat gesagt: ,Wenn ich dich nicht haben kann, kriegt dich keiner.’“ Merkwürdig: Trotzdem reiste das Paar am ersten Jahrestag der Vermissung zusammen in die Türkei – angeblich sei das „ein kläglicher Versuch“ gewesen, die Beziehung neu zu beleben.
Nach der Verhandlung steht Ulvis Vater Erdal Kulac lächelnd im Foyer des Landgerichts. „Ulvi möchte jetzt schnell vom Bezirkskrankenhaus ins Betreute Wohnen umziehen und am liebsten eine Woche Urlaub bei seiner Tante in Antalya machen.“ Dann wird der alte Mann nachdenklich. „Ich bin glücklich. Aber was ist mit dem Kind?“
Auch Ulvis Anwalt Michael Euler sagt: „Das Ergebnis des Prozesses lässt sich kaum noch toppen.“ Trotzdem sei es schade, dass es ihm nicht gelungen sei, aufzuklären, wo das Mädchen ist.
Weiter nach Peggy suchen will der Jurist nicht: „Ich bin Strafverteidiger, kein Privatdetektiv.“ Zudem scheint er die Zuversicht verloren zu haben, dass der Fall je geklärt wird: „Es gibt zwar eine ganze Reihe von Verdächtigen, aber alle mauern. Und selbst wenn jemand ein Geständnis ablegt, muss man sich bei der bayerischen Justiz ja fragen, ob man das glauben darf.“