TV-Kritik zum Tatort aus Stuttgart: Der erzählerische Bluescreen of Death

Der Tatort "HAL" aus Stuttgart ist weniger Krimi als vielmehr ein Science-Fiction-Exkurs. Wer den klassischen Krimi mit Spannungsbogen erwartet, der wird enttäuscht. Dennoch hat der Film einige gute Szenen – am Ende geht ihm aber die Zeit aus.
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Ein Tatort im Zeichen der Überwachung durch "Big Data": Lannert und Boz ermitteln in Stuttgart.
SWR/dpa Ein Tatort im Zeichen der Überwachung durch "Big Data": Lannert und Boz ermitteln in Stuttgart.

Der Tatort "HAL" aus Stuttgart ist weniger Krimi als vielmehr ein Science-Fiction-Exkurs. Wer den klassischen Krimi mit Spannungsbogen erwartet, der wird enttäuscht. Dennoch hat der Film einige gute Szenen – am Ende geht ihm aber die Zeit aus.

Vorsicht: SPOILER-ALARM!

Nicht im Silicon Valley sondern im Ländle, in Stuttgart, entsteht "das nächste große Ding": eine bahnbrechende Überwachungssoftware, die sogar Verbrechen voraussagen kann. Am Ende steht sie selbst im Zentrum eines Mordes und wird zum Protagonisten des neuen Stuttgarter Tatorts.

Regisseur und Drehbuchautor Niki Stein ist alles andere als ein Tatort-Neuling und auch in der Vergangenheit immer wieder durch hitzig diskutierte Folgen in Erscheinung getreten. Auch seine neueste Inszenierung dürfte die Fan-Gemeinde spalten: Wer einen klassischen Krimi mit Spannungsbogen und Wendungen erwartet, wird bitter enttäuscht. Stattdessen präsentiert sich "HAL" als Science-Fiction-Exkurs ohne jegliche realistische Basis, dafür jedoch mit zahlreichen wechselnden visuellen Stilrichtungen.

Einmal Querbeet durch Hollywood

Für die Story hat sich Stein offenbar einmal Querbeet durch Hollywoods Erfolgs-Filme und -Serien der letzten Jahrzehnte geschaut: Ein bisschen Snuff-Video aus "8mm" mit Nicolas Cage; eine Maschine, die alles und jeden überwacht aus der TV-Serie "Person of Interest"; eine außer Kontrolle geratene künstliche Intelligenz aus der "Terminator"-Reihe und schließlich Polizisten, die Verbrechen vorhersagen wollen, wie in "Minority Report" mit Tom Cruise. Nicht zu vergessen der Stanley-Kubrick-Klassiker "2001: Odyssee im Weltraum", von dem sich Niki Stein nicht nur den Titel seiner Tatort-Folge borgte, sondern auch die dramaturgische Unterteilung in mehrere Kapitel.

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Um all diese Story-Elemente unterzubringen, lässt Stein die eigentliche Krimi-Handlung in den Hintergrund rücken. Der Zuschauer wird weniger mit der Frage "wer ist der Mörder" konfrontiert, als vielmehr mit der philosophischen Abwägung, wie weit Technik die Kontrolle über unser Leben übernehmen soll oder darf. Während die Kriminalhauptkommissare Thorsten Lannert (Richy Müller) und Sebastian Bootz (Felix Klare) einen potentiellen Sexualmord aufklären, wird der Zuschauer unentwegt mit der Bedrohung durch die Informationssammelwut der Sicherheitsbehörden konfrontiert. Kameras mit Gesichtserkennung, Sprachanalyse, eine sich selbst weiterentwickelnde künstliche Intelligenz mit Überlebenswillen – das sind die wahren Verbrecher in diesem Tatort.

Die Software diskutiert über Liebe

Umso unbefriedigender ist es, dass Stein ausgerechnet diese Themenfelder unzureichend oder fernab der Realität behandelt. Da wäre zum Beispiel der LKA-Beamte, der mit Hilfe der Software "Bluesky" Verbrechen aufklären will – und erstmal minutenlang mit dem Computer über Liebe diskutiert. Oder die Ermittler in diesem High-Tech-Fall, die wie bei einem Running Gag immer wieder auf aufgezeichnete Videosequenzen reinfallen und diese für Livechats halten. Ganz zu schweigen von dem Programmierer, der eben jenes Programm "Bluesky" mit dem Gewehr bedroht, um es gefügig zu machen.

Dagegen wirkt es fast schon philosophisch, dass das humanoide Gesicht von "Bluesky" ein Menschenaffe ist. Der Computer ist nun die Krone der Schöpfung, der Mensch nimmt die Rolle des Primaten ein. Auch stilistisch wagt Stein einige Experimente, wechselt von intensiv überzeichneten Farben für die reale Welt auf eine blasse Kameraperspektive für die Sichtweise von "Bluesky" und schließlich sogar in eine Egoshooter-Optik für einen SEK-Einsatz. Leider sind diese gelungenen Momente zu selten, um den Rest der Folge zu tragen.

Und am Ende scheint dem Regisseur dann die Sendezeit ausgegangen zu sein. Der Mord wird in den letzten zwei Minuten urplötzlich doch als klassische Beziehungstat aufgeklärt und all die aufgeworfenen Sinnfragen werden völlig ignoriert – auf einmal rollt der Abspann durchs Bild. Vielleicht wollte Stein den Zuschauer zum Nachdenken anregen. Übrig bleibt nach diesem Tatort aber eigentlich nur eine Frage: Warum?

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