Zwei Afghanen versuchen bei der Ski-WM in St. Moritz ihr Glück

Bei der Ski-WM in St. Moritz gehen zwei Athleten aus dem vom Bürgerkrieg zerrissenen Land an den Start. "Wieso fährt da niemand Ski?", fragt Christoph Zürcher. Und macht was Verrücktes.
von  Thomas Becker
Startet bei der Ski-WM: Der Afghane Alishah Farhang, hier im traditionellen Gewand.
Startet bei der Ski-WM: Der Afghane Alishah Farhang, hier im traditionellen Gewand. © James Robertson/ho

St. Moritz - Das Alphabet wollte es so, dass bei der Eröffnungsfeier neben Alishah Farhang und Sajjad Husaini ein gewisser Marcel Hirscher stand - so weit liegen Austria und Afghanistan nicht auseinander.

Was das skifahrerische Können angeht, liegen Welten dazwischen, und doch werden sie im selben Wettbewerb antreten: Während Hirscher beim Riesenslalom am Freitag ab 9:45 Uhr den nächsten WM-Titel jagen wird, sind Alishah und Sajjad einen Tag früher dran: Sie müssen am Donnerstag in die Quali.

Dass sie als erste Afghanen überhaupt bei einer WM starten, klingt wie eine Geschichte aus 1001 Nacht. Schuld daran ist Christoph Zürcher, ein Schweizer Journalist, der gerne dahin geht, wo es weh tut: zu den Kannibalen nach Neuguinea oder mit somalischen Piraten in den Puff.

Vor Jahren hatte er in Afghanistan eine Story recherchiert und musste in Bamiyan, 180 Kilometer westlich von Kabul, ein paar Tage auf den nächsten Flug warten. Er saß vor den Fünftausendern der Koh-e-Baba-Berge und fragte sich: "Wieso fährt da niemand Ski?"

Mit Holz, Schnüren, Plastikteilen bauen sie Skier

Monate später kam Zürcher wieder - mit 15 Paar Tourenski im Gepäck. "Ich hatte völlig falsche, naive Erwartungen. Da gab’s kein großes Jucheee. Fünf Minuten lang fanden die Afghanen das okay, aber im Skifahren Sinn oder Spaß zu sehen, brauchte eine Weile."

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Zürcher blieb dran, setzte sich mit den Dorfältesten zusammen, coachte eine Handvoll junger Kerle und hatte die Idee zu einem Abschlussrennen: der Afghan Ski Challenge. Um die mäßig motivierten Lokalmatadore anzuspornen, versprach er eine Schweizer Uhr als Hauptgewinn.

Zehn Einheimische machten mit, ein Dokumentarfilm entstand, den hunderte TV-Sender zeigten. Mittlerweile laufen gut 80 Teilnehmer mit, auch Frauen. Kinder und Jugendliche bauen sich mit Holz, Schnüren und Plastikteilen Skier und nennen sie "Yakhmalak", was so etwas wie "Plastikteil, mit dem man durch den Schnee rutscht" heißt.

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Zürcher hat etwas losgetreten, an dessen Ende afghanische Winter-Olympioniken stehen könnten - wie von Ex-Präsident Hamid Karsai bei Olympia 2014 gefordert. Wichtiger ist Zürcher die Unterstützung beim Aufbau einer friedlichen Zivilgesellschaft in Afghanistan. Wenn das über Sport funktioniert: gerne. Er weiß, wie es sich anfühlt, wenn einem ein Taliban das Maschinengewehr an die Schläfen drückt.

Doch: "Die Provinz Bamyan unterscheidet sich vom Rest Afghanistans", erklärt Zürcher. 2001 zerstörten die Taliban die 50 Meter hohen Buddha-Statuen aus dem fünften Jahrhundert, doch seit vielen Jahren herrsche in der Region kein Krieg.

Zürcher: "Für afghanische Verhältnisse ist es extrem sicher." Die 60.000-Einwohner-Stadt Bamyan, einst wichtige Handelsstation an der Seidenstraße und in den 60ern Destination auf dem Hippie-Trail, heißt wieder Touristen willkommen.

Wenn es nach Zürcher und den Mullahs geht, dürfen gern Wintersportler dazukommen. Olympia also. Aus einem Gedankenspiel wurde ein Projekt: 2011 gründete Zürcher den Bamyan Skiclub, holte St. Moritz in Form von dessen Sportdirektor Martin Berthold ins Boot, gemeinsam entwickelte man die Idee, die Sieger der Afghan Ski Challenges für zwei Monate einzuladen. Die Wahl fiel auf Alishah und Sajjad, beide Mitte 20.

Sajjad, der Jura studiert und als Bergführer jobbt, flüchtete als Kind für 13 Jahre in den Iran, nachdem die Taliban sein Dorf angegriffen und seiner Mutter ein Bein weggeschossen hatten.

"Sehr erstaunt, aber nicht eingeschüchtert"

Alishahs Dorf in 2800 Metern Höhe verschonten die Terroristen, es führte keine Straße hin. Von St. Moritz aus halten sie nun per Internet Kontakt zur 8000 Kilometer entfernten Heimat. "Das ist alles so verrückt für die", sagt Zürcher, "sie sind einerseits total traditionsbewusst, aber auch völlig offen. Sie sind sehr erstaunt über alles, aber nicht eingeschüchtert. Und ihre Beziehung zu Frauen hat sich komplett gewandelt. Besonders die Begrüßung mit Küsschen finden sie toll."

Um den Kulturschock zu mildern, richtete man ihnen in der exquisitesten Fußgängerzone des Landes eine Bar im Ali-Baba-Style ein und nannte sie „Bamyan Skiclub“. Bei der WM fungiert die Bar als „Afghanisches Haus“. Schon im dritten Winter teilen sich Alishah und Sajjad ein Zimmer in der Jugendherberge in St. Moritz-Bad, werden von Völkl ausgerüstet, bekommen Skikurse.

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Damit sie starten konnten, mussten sie vom Skiverband Afghanistans nominiert werden. Dieser Verband war zwar schon gegründet, allerdings von einer dem Wintersport nicht wirklich nahestehenden Familie aus Kabul, einer Familie vom strenggläubigen Stamm der Paschtunen, die auf die Hazara, zu denen die Athleten gehören, von oben herab blicken.

Zürcher und Berthod flogen im vergangenen Frühjahr nach Kabul und vollbrachten das diplomatisch anspruchsvolle Kunststück, einen nationalen Skiverband gründen zu lassen. Ein diffiziles Unterfangen. Zürcher: "Man muss den Mächtigsten kennen. Die Administration war schwieriger, als die nötigen FIS-Punkte zu sammeln".

Alishah und Sajjad mussten zwischen den Slalomstangen so gut werden, dass sie in den drittklassigen FIS-Rennen genügend Punkte für eine WM-Teilnahme sammelten – was ihnen in vier Rennen gelang. Der Lohn: ein Wettkampf gegen Hirscher, Neureuther & Co. In einem Monat ist das Wintermärchen für Alishah und Sajjad dann wieder vorbei: Am 18. März steigt im „Bamyan Skiclub“ die „Farewell Celebration for our Afghan Ski Champions“. Und schon zwei Tage später müssen sie daheim ihren Titel verteidigen: bei der nächsten Afghan Ski Challenge, als Rollenmodell für den großen Traum von Olympia. Thomas Becker

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