Hartmann: "Bei 1860 bin ich in der Ratlosigkeit angekommen"

AZ: Herr Hartmann, es heißt ja, Sie würden dem 1. FC Nürnberg nahe stehen.
Waldemar Hartmann: Ich habe in meinen jungen Jahren, mit 14, 15, 16, das weinrote Trikot getragen und für den Club Handball gespielt. Mit 17 Jahren bin ich dann aus Franken weg. Wenn die Leute aber fragen: Wofür schlägt Ihr Herz?
Sagen Sie was?
Für meine Frau – und meinen Körper. Nach 40 Berufsjahren werden Sie das auch erleben. Da haben Sie reichlich Illusionen verloren.
Sie schauen nicht das bayerisch-fränkische Derby?
Doch, ich schaue es mir am TV an. Bis zum Schlusspfiff. Die Interviews erspare ich mir. Meist viel Dampf ohne Inhalt.
"Kopfschütteln und Fassungslosigkeit"
Das war bei Ihnen und Rudi Völler anders, als der damalige Bundestrainer Sie mit dem Weißbier-Spruch attackierte.
Ich saß da glücklicherweise, als er nach dem 0:0 gegen Island explodierte. Das brachte mir einen Vertrag als Weißbierbotschafter ein. Heute kommen von Trainern und Spielern fast nur noch Phrasen von wegen „zu schlecht gegen den Ball gearbeitet“.
Welchen Eindruck haben Sie von Sechzig und dem Club?
Ich schwanke zwischen Kopfschütteln und Fassungslosigkeit. Bei 1860 bin ich in der Ratlosigkeit angelangt. Ich frage mich, was die wollen.
Inwiefern?
Wenn ich jetzt darüber rede, was mich bei 1860 stutzig macht, sind wir alleine eine Stunde beschäftigt. Die Nachrichten überholen sich täglich.
Stichwort: Investorenmodell.
In Deutschland wird seit Jahren über die 50+1-Regel diskutiert. Wie das funktionieren kann, sieht man in England. Da regt sich keiner mehr drüber auf. Wenn es aber ausartet, wie bei Sechzig, hat das nichts mit dem Modell, sondern mit den handelnden Personen zu tun.
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Wen meinen Sie?
Präsident Peter Cassalette lässt es ja zu. Klar, ohne Ismaik würde 1860 womöglich in der Regionalliga Süd spielen. Er war der Rettungsanker. Anfangs hat mir Ismaik nicht den Eindruck gemacht, als hätte er früher im blauen Trikot geschlafen. Sechzig war ein Investitionsobjekt, von dem er sich einen Gewinn versprochen hat, bis er gemerkt hat, dass das ein Fass ohne Boden ist. Aber er schüttet jetzt weiter Geld in dieses Fass. Ein Ian Ayre kommt ja nicht umsonst aus Liverpool.
Sie haben den Blick aus Berlin nach München. Was sagen die Leute über 1860?
Um ehrlich zu sein, sprechen mich alle nur auf Bayern an, auf 1860 keiner mehr. Ich glaube, viele Leute nehmen Sechzig gar nicht mehr als ernsthaften Fußballklub wahr.
Club hat Alleinstellungsmerkmal
Über das Spiel jetzt könnte man „Duell der verpassten Chancen“ schreiben. oder?
Der einzige Unterschied ist, dass der Club nicht in ein und derselben Stadt einen übermächtigen Mitbewerber hat. Der Club hat ein Alleinstellungsmerkmal, ebenso positiv verrückte Fans wie Sechzig. Innerhalb von fünf, sechs Jahren hat Martin Bader (Ex-Manager, d. Red.) meiner Meinung nach diesen Verein aber an die Wand gefahren. Jedes Mal, wenn du dachtest, sie machen den nächsten Schritt, haben sie einen Leistungsträger für billiges Geld verkauft. Ich erinnere nur an Ilkay Gündogan. Der ist in Nürnberg zur Schule gegangen, hat im Berthold-Brecht-Gymnasium sein Abitur gemacht. Der hätte länger zur Identifikationsfigur getaugt.
Drohen Klubs wie Sechzig und Nürnberg auf lange Sicht wettbewerbsunfähig zu werden?
Ja, und zwar wegen Eigenverschulden. Nehmen wir Nürnberg: 2007 Pokalsieger und Bundesliga, jetzt zwischen Nirgendwo und Sowieso.
Dennoch: Wie wichtig ist dieses Spiel für das Selbstverständnis in Bayern?
Wovon reden wir denn? Ein Sieg im Derby ist eine Streicheleinheit für den Fan, aber ansonsten eine reine Placebo-Nummer.