Abstiegsbedrohte Löwen: Ultimative Charakterfrage

Hamburg - Für einen Moment verlor Torsten Fröhling die Fassung. Ein Reporter war ihm mit einem Mikrofon zu nahe gekommen. Da explodierte er. „Das muss doch nicht sein. Ich habe auch Druck“, fauchte der Chef des Löwen-Rudels. Es war der Moment, in dem das Seelenleben des TSV 1860 für jeden offenbar wurde.
Druck. Purer Druck. Unmenschlicher Druck. Das Hinspiel der Relegation bei Holstein Kiel am Freitagabend im Holstein-Stadion (20.30 Uhr, BR) wird zum vorletzten Nervenkrieg, zur Mutprobe, zum ultimativen Charaktertest. Für Fröhling, vor allem aber für seine Spieler. Von Eicher bis Okotie, von Ortega bis Hain – für alle 18 Spieler, ob auf dem Platz oder auf der Bank. Die, die noch übrig sind am Ende dieser nervenzehrenden Saison, müssen es rausreißen. Zwei Spiele, mindestens 180 Minuten, eine Chance.
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Versagen die Löwen, ist 1860 so gut wie am Ende. Schaffen sie die Rettung, besteht zumindest die zarte Hoffnung auf eine bessere Zukunft. An die Zukunft denkt zurzeit aber keiner, betont man bei den Löwen so gerne. Und schon gar nicht Julian Weigl, der definitiv nach der Saison zu Borussia Dortmund wechseln wird. „Für den Jungen ist das eine tolle Sache“, bestätigte Fröhling, „aber für mich hat das jetzt keine Auswirkungen.“ Das hofft er zumindest.
Er hofft, dass seine Spieler die Lehren aus dem Katastrophen-Auftritt in Karlsruhe gezogen haben. Dass sie verstanden haben, dass eine solche „Leistung“ nicht für den Klassenerhalt reichen wird. Dass es auch eine Frage des Charakters sein wird, wer am Ende als Sieger vom Platz geht. Fröhling wollte am Donnerstag zwar nichts auf seine Spieler kommen lassen. „Ich werde meinen Jungs nicht den Vorwurf machen, dass sie gegen Karlsruhe nicht gewollt haben. Kiel wird mit mannschaftlicher Geschlossenheit kommen. Das ist das Entscheidende im Fußball.“
Geschlossenheit. Es gibt wohl kaum ein Kriterium, das 1860 zuletzt eklatanter verfehlt hat. Nicht umsonst betonte Fröhling, dass man ins Kurztrainingslager nach Hamburg gereist sei, um „noch mal zusammenzurücken und alle Kräfte zu mobilisieren“. Um alles hinten anzustellen. Denn: „Es zählen nur die 90 Minuten am Freitagabend.“ Ob das jedem bewusst ist, wird Fröhling wohl erst wieder merken, wenn das Spiel schon läuft. Wie so häufig in dieser Saison, in der schier unvorhersehbar war, welches Gesicht die Mannschaft zeigen würde. Oft war es so, dass nach einer unerklärlich schlechten Leistung eine halbwegs überzeugende folgte. Die Löwen sind schon so tief gefallen, dass sie ihre Hoffnung aus dem eigenen Misserfolg, der eigenen Inkonstanz ziehen.
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Bitter, aber wahr. Selbst Spieler wie Rubin Okotie sind schon seit Wochen nicht mehr geeignet, Signale der Hoffnung nach außen zu senden. Der einstige Knipser hat sein Knipser-Gen verloren, wirkt, als ob er jegliche Lust am Klub, an 1860, verloren hat. Wer ihn in den vergangenen Wochen sah, konnte sich fragen, wie der Österreicher jemals auf 13 Liga- und drei Pokaltore (davon zwei in Runde eins gegen Kiel) kommen konnte. Fröhling sagt deshalb: „Rubin sollte sich auf die Hinrunde besinnen.“ Die Trainer-Kritik am 27-Jährigen schwang in Fröhlings Worten deutlich mit: „Ich erwarte von Spielern wie ihm, dass sie Verantwortung übernehmen. Das kann er. Er muss es aber auch machen.“
Einer der ganz wenigen, die diese Verantwortung zuletzt übernahm und voranging, war Gary Kagelmacher. Nach seiner Gelb-Sperre ist der Verteidiger wieder dabei und einer der wenigen Lichtblicke und Hoffnungsträger für Fröhling. „Gary ist ein ganz wichtiger Spieler geworden. Er hat die Gene, die wir alle fordern. Er lebt 1860.“
Doch lebt 1860 nach dem Spiel in Kiel noch? Beim TSV geht man zumindest davon aus. Obwohl sie allen Fokus auf die Relegationsspiele legen wollten, gaben die Löwen am Donnerstag bekannt, dass sie am 24. Juni ins erste Trainingslager der neuen Saison aufbrechen werden. Ligaunabhängig.