Mischa Zverev: "Sascha kann einen mit seinem Spiel überrollen"
AZ-Interview mit Mischa Zverev: Der 35-jährige Ex-Profi, der in seiner Karriere ein Einzelturnier gewonnen hat, arbeitet als Experte bei Eurosport. Er ist der Bruder von Topstar Alexander Zverev.
AZ: Herr Zverev, Sie berichten für Eurosport von den US Open, die Ihr Bruder nach seinem Bänderriss bei den French Open in Paris noch auslassen musste. Wie geht es Sascha?
MISCHA ZVEREV: Gut. Er trainiert, ist fleißig, bereitet sich vor, macht alles, was er machen kann, um beim Davis Cup in Hamburg wieder dabei sein zu können. Das ist emotional und körperlich sein Ziel. Vor drei, vier Wochen konnte er noch nicht mal richtig gehen, und jetzt spielt er auf dem Platz schon wieder ganz normal.

Familie von Alexander Zverev: "Sie verstehen Tennis und sie verstehen Sascha"
Die US Open kamen einfach noch zu früh, korrekt?
Er will gewinnen, wenn er spielt. Gesund sein und keine Schmerzen haben ist das Eine, das Andere ist: Ich fahre zum Turnier, weil ich weiß, dass ich ordentlich spielen werde und mein Level abrufen kann. Wenn das nicht der Fall ist, weil du zu wenig trainiert hast oder noch zu langsam bist, dann wird er sich das nicht antun, weil er noch nicht bereit ist. Er will nicht einfach hinfahren, um teilzunehmen. Das ist seine Priorität: erst dann spielen, wenn er das Gefühl hat, wieder auf seinem Level zu sein.
Das Spiel gegen Rafael Nadal in Paris, als er so schlimm umgeknickt war, war eins seiner besten Spiele überhaupt. Wie zerknirscht war er danach?
Das war eine Mischung aus Enttäuschung, Traurigkeit und Sorge um das, was nun in den nächsten Monaten und Jahren passieren würde: Welche Folgen hat die Verletzung? Er war immer relativ positiv gestimmt, weil er auch Freunde und Familie um sich hat. Wir überlegen mit ihm, was er tun kann, um besser zu werden. Darin ist meine Familie sehr gut: Die verstehen das Leben, die verstehen Tennis, und sie verstehen Sascha.
Er hadert also nicht?
Wenn er mal in so einem Modus ist, verbringen wir viel Zeit miteinander und können uns gut gegenseitig ablenken. Das ist schlimmer, wenn du ein Einzelgänger bist, nichts anderes als deine Gedanken hast – dann wird's kompliziert. Aber so gehen wir zusammen angeln, Boot fahren, schwimmen – oder wir trainieren. Auch das ist eine gute Abwechslung.
Apropos Abwechslung: Bei den US Open sehen wir auch viele neue Gesichter, die so manchen Favoriten bereits aus dem Turnier gekegelt haben, zum Beispiel Stefanos Tsitsipas, der in Runde eins glatt gegen einen kolumbianischen No-Name verlor.
Ich habe schon mehrmals gegen Daniel Galan gespielt, schlecht gespielt und auch verloren. Aber dass Tsitsipas gegen ihn die ersten beiden Sätze 0:6 und 1:6 verliert! Ich habe noch nie einen gesunden Top-Ten-Spieler bei einem Grand Slam gesehen, der gegen einen Außenseiter elf Spiele lang keine Lösung findet. Das war für mich überraschend. Er hat gesagt, er war nicht verletzt, hat sich gut gefühlt, er liebt New York, liebt das Turnier. Dort ist er aber noch nie weiter als die dritte Runde gekommen – so ist Tennis manchmal.
"Nadal hat mich sehr beeindruckt"
Nadal und Medwedew dürften wieder die Favoriten sein.
Wie seit Jahren schon, Medwedew noch nicht ganz so lang. Als Nadal auf die Tour kam, konntest du richtig einen Unterschied sehen: Okay, das ist noch mal ein ganz anderes Level! Wie schnell er ist, wie viel Kraft er hat, wie viel Topspin er spielt! Als Roger Federer dann kam, dachte man: Wie kann man nur so schön Tennis spielen? So sauber, der hat keine Schwächen. Bei Novak Djokovic denkst du: eine Wand, die du nicht durchbrechen kannst. Dieses Gefühl, dass da jetzt was ganz Neues ist, habe ich derzeit nicht bei vielen Spielern. Aber – und da bin ich jetzt natürlich parteiisch: Wenn Sascha richtig gut spielt, habe ich bei ihm dieses Gefühl. Er ist zwei Meter groß, bewegt sich aber wie mit 1,90 Metern. Sein Aufschlag: schnell. Seine Rückhand: fast der beste Schlag auf der Tour. Seine Vorhand: Okay, die kann ab und zu wackeln, aber auch gefährlich werden. Klar, noch keinen Grand Slam gewonnen, manchmal fehlt die Konstanz, aber sein Spiel kann einen wirklich überrollen.
Was halten Sie von Shooting Star Carlos Alcaraz?
Das ist was Neues: Er kommt aus Spanien, spielt aber nicht wie ein typischer Spanier, ist sehr kreativ, hat keine Angst vorm Netz, spielt den Stopp, hat ein Lächeln auf dem Gesicht, auch bei engen Spielständen. Er genießt das Spiel, ist sehr jung und spielt unglaublich aggressives und schönes Tennis. Er verbessert sich permanent, will jeden Punkt selber gewinnen, und das ist gut. Fragt sich nur, wie er sich in den nächsten ein, zwei Jahren weiter entwickeln kann. Aber er hat das Potenzial zu einem Rafa oder Roger zu werden, einem Mix aus den beiden.
Wer ist Ihr Favorit?
Nadal hat mich sehr beeindruckt, hat sich gut bewegt, sehr aggressiv mit der Vorhand gespielt, was er auf dem schnellen Belag von New York tun muss, da darf er nicht zu passiv werden. Medwedew hat in Runde eins einen relativ einfachen Gegner, kann sich aber immer sehr leicht und schnell steigern, was für viele Spieler sehr unangenehm ist. Und Alcaraz ist so jung, dass er sich jeden Tag verbessern und neue Grenzen erreichen kann, von denen er noch gar nichts wusste – das können die anderen Spieler nicht. Alcaraz steht morgens auf und spielt noch besser, obwohl er nichts verändert hat. Das ist der Vorteil bei jungen Spielern: Die müssen einfach gut essen, gut schlafen, und am nächsten Tag spielen sie schon besser. Nadal wird hier nicht das allerbeste Tennis seines Lebens spielen - das hat er wahrscheinlich vor einigen Jahren getan. Alcaraz kann hier über sich hinaus wachsen – ob er's tut, wissen wir nicht.