Thomas Helmer: "Deutschland leidet an moderner Torallergie"

Der 51-jährige Ex-Bayern-Profi Thomas Helmer wurde 1996 mit Deutschland Europameister. Am Sonntag (11 Uhr) moderiert er wieder den EM-Doppelpass auf Sport1.
AZ: Herr Helmer, wie sehr hat Sie das Halbfinal-Aus der deutschen Nationalelf gegen Frankreich überrascht?
THOMAS HELMER: Ich hatte das Gefühl: Wenn wir Italien geschlagen haben, dann schaffen wir das auch gegen Frankreich. Vielleicht waren wir alle zu euphorisch.
Toni Kroos und Joachim Löw waren das danach noch, sprachen vom besten EM-Spiel.
Das würde ich jetzt mal auf den Schockzustand unmittelbar nach dem Spiel zurückführen. Wir haben nicht schlecht gespielt. Aber ich würde nicht sagen, dass wir so viel besser waren. Wir haben uns zwei individuelle Fehler geleistet und sind selbst nicht in der Lage, genug Tore zu erzielen. Vor der EM dachten noch alle, dass die Offensive unser Prunkstück ist.
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War der Strafstoß der Knackpunkt der Partie?
Einen Elfmeter kurz vor der Halbzeit zu bekommen, das ist bitter – noch dazu so einen blöden. Die Torgefahr war ja eigentlich nicht so riesig. Das schockt die Truppe natürlich erstmal. Aber das Team ist mental stark genug, so etwas wegzustecken. Aussagekräftiger war für mich die erste Chance von Müller. Ihm fehlt so diese Coolness, die er sonst immer hat. Es gab mehrere Chancen, aber der Ball wollte nicht rein. Moderne Torallergie, würde ich sagen. Wir haben nicht nur Probleme damit, Chancen zu kreieren, sondern auch damit, sie zu nutzen.
Waren die ganzen Ausfälle nicht mehr zu kompensieren?
Es war so ein Tag, an dem alles in die falsche Richtung läuft, Boateng verletzt sich auch noch. Es wäre aber zu einfach zu sagen: Nur weil Mario Gomez nicht gespielt hat, haben wir es nicht geschafft. Dafür müssen wir andere Lösungen haben. Wir wussten ja vorher, dass wir genau einen solchen Stürmertypen haben, so wie vor zwei Jahren mit Miro Klose. Den gibt es kaum noch.
Oliver Kahn sagt, man müsse „wieder Torjäger züchten“.
Alle haben gedacht, dass diese falsche Neun die Lösung für alles ist. Wer da die Beste hat und alles spielerisch löst, wird immer gewinnen. Jetzt hat man gesehen, dass dies Quatsch ist. Da müssen wir schauen, dass wir neue Spieler bekommen, genauso wie auf den Außenverteidigerpositionen.
Joachim Löw hat seine Zukunft als Bundestrainer noch offengelassen.
Die Enttäuschung so unmittelbar nach dem Spiel ist riesengroß. Wenn wir weitergekommen wären, hätten wir Portugal, glaube ich, geschlagen. Der Titel wurde, glaube ich, gegen Frankreich entschieden. Dass Löw dann enttäuscht ist und keine Lust hat, darüber nachzudenken, was im September ist, halte ich für normal. Ich halte es für einen Fehler, wenn er nicht weitermachen würde. Sein ganzes Team und die meisten fußballerischen Komponenten – das war schon sehr gut. An ihm zu zweifeln, halte ich für völlig falsch.
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Welche Schlüsse wird er aus dem EM-Aus ziehen?
Er hat ja gesagt, dass er aus der Halbfinal-Niederlage gegen Italien 2012 auch einiges mitgenommen hat, um dann 2014 Weltmeister zu werden. Das wird er jetzt wieder machen, alles analysieren, sich selbst hinterfragen. Wahrscheinlich kommt er zu dem Schluss, dass man manchmal einfach auch ein bisschen Glück braucht.
Glauben Sie, dass Schweinsteiger zurücktreten wird? Wäre es nicht bitter, so abzutreten?
Es gibt keinen richtigen Zeitpunkt. Ich kenne das ja auch. 1998 war ich oft verletzt, habe nicht gespielt, dann scheidest du gegen die Kroaten im Viertelfinale aus. Ich musste einsehen, dass es vorbei war. Das Finale in Brasilien wird immer in Verbindung mit Schweinsteiger in Erinnerung bleiben. Jetzt aufzuhören, würde seinem Ruf keinen Abbruch tun. Die Frage ist, ob er es überhaupt schafft und sich noch mal so aufraffen kann – und will. Auch Podolski und Gomez sind schon über 30. Mal schauen. Wie immer wird es schon ein paar neue Impulse geben müssen.