Stark Bayern-geprägt: Die Planspiele von Bundes-Hansi Flick
Umbruch - kein Wort wurde von Joachim Löw häufiger benutzt in der Zeit nach der traumatischen WM 2018 in Russland.
Der mittlerweile Ex-Bundestrainer zog sein Ding durch mit der unsanften und abrupten Verabschiedung von Thomas Müller, Mats Hummels und Jérôme Boateng im März 2019. Zwei des DFB-Frührentner-Trios wurden vor Beginn dieser EM vom Abstellgleis wieder in die erste Klasse hofiert. Und nun das: Der Altersdurchschnitt des deutschen EM-Kaders betrug 27,55. Vor drei Jahren in Russland 27,57. Von einer radikalen Verjüngung kann man da nicht sprechen.
Spieler freuen sich auf den Re-Start unter Flick
Beim 0:2 in Wembley, dem Aus gegen England, kam die Abteilung Zukunft aufs Feld als in der Gegenwart schon längst alles zu spät war, als das Achtelfinale längst entschieden und bereits beinahe Vergangenheit war.
In der 92. Minute nahm Löw in seinem 198. und letzten Länderspiel, seinen letzten Spielerwechsel vor. Müller, das Sinnbild der erhofften Renaissance des Weltmeister-Spirits von 2014, musste in der Nachspielzeit den Platz verlassen. Das Küken des Teams, der 18-jährige Jamal Musiala, durfte noch zwei Minuten mitmischen. Warum? Weil er in England gelebt und in Chelseas Jugend gespielt hat?
Zu späte Wechsel, zu wenig Risikobereitschaft, keinen Mut zur Systemumstellung, keine taktische Flexibilität - all das kann Hansi Flick ab September besser machen, wenn der ehemalige Mehr-Erfolg-geht-fast-nicht-Trainer des FC Bayern Löws Erbe antritt. Aus Spielerkreisen ist zu hören, dass sie sich freuen auf den Neustart, auf den Reset unter Flick - auch, weil er eine Viererkette bevorzugt.
Für Ilkay Gündogan wird es schwer
Die Nationalelf braucht frisches Blut und eine klare Linie: Nicht mehr nur Schwächen ausmerzen, sondern die Stärksten dort spielen lassen, wo sie am stärksten sind. Etwa Joshua Kimmich, unter Löw Rechtsverteidiger in der Not mangels Klasse auf dieser Position: Flick wird auf seine frühere Bayern-Zentrale, den Maschinenraum mit Kimmich und Leon Goretzka, in der Zentrale setzen.
Für den bei der EM teils trägen Ilkay Gündogan (30) wird es in Zukunft schwer. Eine Alternative ist Gladbachs Florian Neuhaus (24), von Löw in höchsten Tönen gelobt, aber keine Minute bei der EM eingesetzt.
Was passiert mit Thomas Müller?
Toni Kroos zog schon mal die Konsequenzen. Der 31-Jährige tat am Freitag Flick einen großen Gefallen, indem er von sich aus zurücktrat und damit eine Debatte über seine Relevanz für die Nationalelf mit Blick auf die WM 2022 in Katar verhinderte.
Denn: Der Spielmacher von Real Madrid ist zwar noch ein wichtiger Ballverteiler und Rhythmusgeber, scheint aber über seinem Zenit. Geht es ums Pressing, um Umschaltmomente und das Einschalten des Turbos hat die personifizierte Passmaschine klare Defizite.
Eine Diskussion wird es - mit Abstrichen - auch um Antreiber Müller geben. Doch Flick ist Fan von Müller (31), seinem verlängerten Arm auf dem Platz. Mats Hummels (32) will "in ein paar Wochen" entscheiden, ob er weitermacht. Für ihn könnte Matthias Ginter ins Zentrum rücken. Linksverteidiger Marcel Halstenberg liegt die Viererkette eher als Robin Gosens, dem möglichen One-Hit-Wonder.
Rätselraten um Serge Gnabry und Leroy Sané
Um Kai Havertz, den talentiertesten Angreifer seiner Altersklasse, wird Flick die Offensive aufbauen und versuchen, den zuletzt rätselhaft schwachen Serge Gnabry wieder in die Spur zu bekommen. Bei Timo Werner muss erneut Trainer Thomas Tuchel bei Chelsea Aufbauarbeit leisten, dasselbe gilt für Leroy Sané. Kann Neutrainer und Flick-Nachfolger Julian Nagelsmann das Supertalent beim FC Bayern erreichen und ihn zu einem anderen, aggressiveren, extrovertierteren Spieler mit positiverer Ausstrahlung machen? Pep Guardiola, Jogi Löw und teils auch Flick bei Bayern sind an dieser Aufgabe gescheitert.
Frisches Blut für den DFB-Kader: Optionen Wirtz und Nmecha
Oldie Manuel Neuer (35) hatte bereits vor dem Turnier erklärt, unter Flick weitermachen zu wollen. Der Torhüter ist für den neuen Bundestrainer eine tragende Säule. Aus dem Team der U21-Europameister von Trainer Stefan Kuntz könnten Rechtsverteidiger Ridle Baku (23), der Stammplatz-Potenzial hat, sowie Offensiv-Allrounder Florian Wirtz (18) als Alternative zu Müller sowie Mittelstürmer Lukas Nmecha (22) in Flicks Kader aufrücken.
Los, Hansi, den Mutigen gehört die Welt.