Sir Peter Jonas über „Englands Götterdämmerung“

Der frühere Intendant der Staatsoper, Sir Peter Jonas, spricht über das Aus seiner Engländer gegen Island, Sangesschlachten der Fans und angesichts des Duells Deutschland – Italien über Hermann, den Cherusker.
Interview: Matthias Kerber |
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„Wenn es nicht so amüsant gewesen wäre, wäre es schockierend“, sagt Sir Peter Jonas, einst Intendant der Bayerischen Staatsoper, über das EM-Aus seiner Engländer um Keeper Joe Hart gegen Underdog Island.
dpa „Wenn es nicht so amüsant gewesen wäre, wäre es schockierend“, sagt Sir Peter Jonas, einst Intendant der Bayerischen Staatsoper, über das EM-Aus seiner Engländer um Keeper Joe Hart gegen Underdog Island.

München - Sir Peter Jonas, früherer Intendant der bayerischen Staatsoper, wurde 1946 in London geboren. Im AZ-Interview verrät er warum er, trotz des Ausscheidens der Engländer, kein Mitleid mit seinem Heimatland hat.

AZ: Sir Peter, Island, der Underdog der Underdogs, hat bei dieser EM für die große Sensation gesorgt und England, Ihr Heimatland, aus dem Turnier geworfen. Was sagt der ehemalige Intendant der Bayerischen Staatsoper zu diesem Drama auf der großen Fußball-Bühne?

SIR PETER JONAS: Was war das für eine Inszenierung! Allein dieses Bild, wie die Isländer vor ihren Fans stehen und mit diesem rhythmischen Klatschen den Triumph feiern, das war groß. Das war martialisch, fast wie Kriegsgeheul, so als würden die Wikinger gleich einmarschieren. Es hat mich sehr an den Haka erinnert, den traditionellen Tanz, den Neuseelands Rugbyspieler vor den Partien aufführen. Ich war höchstgradig amüsiert. Vor dieser EM war ich eigentlich an dem Turnier nicht interessiert, ich liebe den Vereinsfußball, mein Herz gehört Crystal Palace, aber die Isländer haben mir den Spaß an dieser EM beschert. Erstaunlich, wie viel Spaß man doch mit einem Bier und einem Spiel haben kann.

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Gar kein Mitleid mit England?

Nein, die Vorstellung war eine Schande. Wenn es nicht so amüsant gewesen wäre, wäre es schockierend gewesen. England hat sein Waterloo erlebt, seine Götterdämmerung. Sie haben gespielt, als hätten sie Blei in den Füßen – und den Köpfen. Sechs Minuten vor Schluss hat Englands Coach Roy Hodgson endlich den jungen Marcus Rashford eingewechselt. Er war wohl zu jung – oder zu dumm –, sich dem englischen Spielniveau anzupassen. Diese sechs Minuten waren die einzigen, in denen ich an diesem Abend Talent im englischen Spiel entdeckt habe. Dabei hätte das Team eigentlich Talent!

Was war dann los?

Wir Engländer haben vergessen, dass es um ein Spiel geht. 22 Mann und man versucht, den Ball ins gegnerische Tor zu schießen. Das ist alles. Mehr ist es nicht! Das ist keine Raketentechnologie, dafür braucht es keine Genies. Aber die Spieler heute sind überbezahlt, übergewichtig und viel zu kompliziert. Ich würde auf der Trainerbank die iPads verbieten. Da wird ein Spieler kurz vor Schluss eingewechselt und dann zeigt ihm der Assistenztrainer noch schnell auf dem iPad, wie man rückwärts läuft. Diese Verwissenschaftlichung tut dem Fußball nicht gut, eine gewisse Proletarisierung wäre hingegen hilfreich. Es fehlt an Härte.

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Das war lange Zeit die englische Fußballtugend, die ja auch auf dem strengen Bildungssystem beruhte. Winston Churchill sprach im Parlament den berühmten Satz: Die 350 Jahre stolzer Geschichte, auf die unsere Kriegsmarine zurückblicken kann, fußen auf einem Rezept: Rum, Peitsche und Sodomie.

Das stimmt! Aber heute ist die englische Gesellschaft von der Geißel der politischen Korrektheit gepeinigt. Es herrscht eine unglaubliche Angst, dass man jemand in seiner Komfortzone stören, ihn verletzen könnte. Aber Errungenschaften wurden immer nur von Querdenkern verursacht, die Komfortzonen stören, durchbrechen, Bei sich und anderen. Früher hat man etwa seinen Uni-Abschluss gefeiert, indem man am Ende den Hut in die Luft wirft. Heute ist das verboten, weil ja jemand von den Hüten verletzt werden könnte. Ein schrecklicher Trend. Der englische Fußball muss sich neu finden und erfinden. Und das wird weh tun.

Die Isländer haben nicht nur das Spiel, sondern auch die Sangesschlacht der Fans gewonnen.

Wunderbar. Obwohl die Isländer nur 3500 Karten gekriegt haben, haben sie das Stadion gekapert. Das erinnert mich an meinen Klub Crystal Palace. Ins Stadion passen dort 25 000 Fans, aber es sind die besten Fans. Du spielst nicht nur gegen Crystal, sondern diese Wand aus Fans. Das haben die Engländer gegen Island unterschätzt, sie spielten nicht gegen elf Gegner, sondern 3511! Mich erinnert das an eine Belcantooper – etwa Vincenzo Bellinis „I Puritani“ –, bei der jeder Ton perfekt sitzt. Man sitzt nur da und genießt.

England-Star Wayne Rooney hatte einen rabenschwarzen Tag. Um in der Opernthematik zu bleiben: Das Hohe C hat er nie getroffen.

Nein, man konnte fast Mitleid mit ihm haben. Er war nie mein Lieblingsspieler, aber er war immer ein ehrlicher Spieler, der alles gegeben hat. Ihm dabei zuzusehen, wie ihm selbst einfachste Bälle verspringen, hatte fast etwas Tragisches.

Spötter behaupten nach dem Aus, dass England wohl mit Europa gar nichts mehr zu tun haben will. Erst der Brexit, nun das EM-Aus.

(lacht) Da möchte ich Oscar Wilde abgewandelt zitieren: Ein Brexit kann ein Missgeschick sein, ein zweiter muss schon fast als Plan oder als böser Wille gewertet werden. Nein, was wir Briten brauchen, ist nicht der Brexit-Vorantreiber Boris Johnson, der nur eine etwas nettere Variante von Donald Trump ist, sondern eine Politikerin wie Theresa May, die ein paar der guten Eigenschaften von Mutti Merkel hat.

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Im Viertelfinale kommt es nun zum Aufeinandertreffen von Deutschland und Italien. Sozusagen Wagner gegen Verdi.

Oh, die Italiener haben mich überrascht, sie haben richtig gut Fußball gespielt, aber von Verdi und seiner Schönheit sind sie doch ein gutes Stück entfernt. Deutschland ist auch nicht mehr nur Wagner, sie haben Elemente von Leichtigkeit in ihrem Spiel. Ich dachte mal, dass Mesut Özil der beste Spieler der Welt werden kann, aber im Moment sehe ich ihn ihm fast eine Achillesferse im deutschen Spiel. Deutschland und Italien, darauf Freude ich mich schon – es gab ja schon viele historische Duelle bis hin zu...

Hermann, dem Cherusker!

Die Schlacht im Teutoburger Wald! Sie war ein Vorzeichen, dass das römische Reich auseinander fallen würde. Aber diese italienische Mannschaft hat nichts mit dem römischen Heer von damals zu tun. Falls die Deutschen eine Wiederholung vom Teuteburger Wald erhoffen, täuschen sie sich, diese Italiener sind gerüstet.

 

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