Interview mit Gernot Rohr zum EM-Halbfinale zwischen Deutschland und Frankreich

Der Wahlfranzose Gernot Rohr spricht über das Duell seiner beiden Heimatländer, seinen Ex-Spieler Zidane und die Stimmung der Europameisterschaft.
von  Julian Buhl
„Deutschland ist der Angstgegner von Frankreich. Das ist so wie Italien für Deutschland“, sagt Rohr über Müller (r.) und Co.
„Deutschland ist der Angstgegner von Frankreich. Das ist so wie Italien für Deutschland“, sagt Rohr über Müller (r.) und Co. © az, dpa, firo/Augenklick

München - Der 63-Jährige Gernot Rohr lebt seit über 40 Jahren in Frankreich. Unter anderem bei Girondins Bordeaux stand er als Spieler und Trainer unter Vertrag. Zuletzt war er Nationalcoach von Burkina Faso. Vor dem EM-Halbfinale zwischen Deutschland und Frankreich hat die Abendzeitung mit ihm über die Situation im Gastgeberland gesprochen.

AZ: Herr Rohr, heute spielt Frankreich gegen Deutschland. Ihr Wunschhalbfinale?
GERNOT ROHR: Es wäre mir natürlich lieber gewesen, wenn es im Finale dazu gekommen wäre. Aber es ist bisher alles nach Plan gelaufen, für Deutschland und für Frankreich. Das deutsche Viertelfinale in Bordeaux, wo ich zu Hause bin, hat mir viel Spaß gemacht.

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Rohr - Europäer mit deutschen Wurzeln und französischen Pass

Fühlen Sie sich mehr als Franzose oder als Deutscher?
Ich fühle mich als Europäer mit deutschen Wurzeln, der seit vielen Jahren einen französischen Pass besitzt. Ich werde also auf jeden Fall Gewinner sein, aber auch traurig mit dem Verlierer. Frankreich ist für mich leichter Favorit.

Ihre Kinder waren zuletzt im Deutschland-Trikot zu sehen.
Aber nicht gegen Frankreich! Das war gegen Italien. Da haben sie mit Deutschland-Fahnen mitgefiebert, meine Söhne hatten Trikots an und ihre Gesichter schwarz-rot-gold bemalt. Jetzt sind sie hin- und hergerissen, haben wie ich für beide Mannschaften große Sympathien. Meine Familie wächst fußballerisch zweisprachig auf.

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Sehr diplomatisch ausgedrückt. Wie der deutsche Fußballbotschafter eben.
Ich war sehr überrascht, dass man nach so vielen Jahren im Ausland dabei an mich gedacht hat. Ich wurde von den beiden Außenministern Jean-Marc Ayrault und Frank Walter Steinmeier geehrt. Ich bin stolz auf diese Auszeichnung, die mich auch wieder etwas näher an Deutschland gebracht hat.

Haben Sie noch etwas typisch Deutsches an sich?
Meine Mentalität ist nach wie vor deutsch. Man passt sich an und genießt die positiven Seiten des neuen Landes. Ich habe das Glück, direkt am Atlantik zu wohnen. Bordeaux verbindet man mit einem angenehmen Klima, netten Menschen und Gastronomie. Aber mit Mannheim ist auch nach wie vor meine Heimat in Deutschland. Meine Brüder und meine 94 Jahre alte Mutter, die ich regelmäßig besuche, leben dort.

Bei Ihnen zu Hause in Frankreich gibt es keine elektrische Klingel und stattdessen eine Glocke. Ein Ausdruck von Unbeschwertheit?
Das stimmt. Eine draußen am Tor und eine zweite direkt vor der Haustür. Das steht vielleicht schon für Unbeschwertheit. Ich höre eben lieber den schönen Klang einer Glocke als eine Klingel.

Angstgegner DFB: Deutschland ist Frankreichs Italien

Zurück zur EM. Was ist größer, die Euphorie um die Équipe tricolore oder die Ehrfurcht vor La Mannschaft?
La Mannschaft ist der Angstgegner. Das ist so wie Italien für Deutschland. Die Begeisterung ist aber da. Frankreich hat Lust, die tristen Dinge zu vergessen. Nahezu alle Trikots der Nationalelf sind ausverkauft. Dazu kommt jetzt die Sonne überall wieder zurück – keine Unwetter, keine Streiks mehr. Frankreich würde ein Sieg sehr guttun und bräuchte ihn vielleicht mehr als Deutschland für die Stimmung im Land.

Dazu müsste man den Fluch in K.o.-Spielen gegen Deutschland brechen, zuletzt verlor man 0:1 bei der WM 2014.
Seit der WM 1958 und dem 6:3-Sieg im Spiel um Platz drei warten sie auf einen Sieg. Die Franzosen glauben jetzt daran. Die Leute sagen: „Jetzt sind sie vielleicht reif für die sportliche Revanche.“ Das WM-Halbfinale 1982, das Deutschland 5:4 im Elfmeterschießen gewann, ist immer noch ein Trauma, das nie verdaut wurde.

Muss Bundestrainer Joachim Löw seine Taktik nach den offensivstarken Franzosen ausrichten?
Man muss die Stärken des Gegners miteinbeziehen. Alles andere wäre hochnäsig. Deutschland spielt auswärts, hat das aber auch in Brasilien wunderbar gemacht. Der Heimvorteil kann aber auch nach hinten losgehen, Frankreich kann nervös und ausgekontert werden. Aber sie werden nicht die Fehler machen, die die Brasilianer vor zwei Jahren beim 1:7 gegen Deutschland gemacht haben.

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Griezmann und Co. als Nachfolger von Zidane

Wächst aktuell eine Spielergeneration heran, die in die Fußstapfen von Zinedine Zidane und Co. treten kann?
Man konnte es sich erlauben, Spitzenspieler wie Ribéry nicht zu nominieren, weil man andere, jüngere und bessere Spieler hat. Die neue Generation sorgt durch Schnelligkeit und Dribbelstärke für große Torgefahr. Payet, Griezmann, Coman, das ist praktisch ein zweiter Sturm.

Wie war es, Zidane in Bordeaux zu trainieren?
An ihn habe ich nur gute Erinnerungen. Ich hatte ihn als jungen Spieler im Team. Er war immer ein bescheidener, ruhiger Mensch, der gut zugehört hat und gehorsam war. Er war also ganz leicht zu trainieren. Auch als er zum Star wurde, ist er derselbe Mensch geblieben. Ich Freude mich immer, wenn ich ihn treffe, wie vor ein paar Monaten, als das neue Stadion in Bordeaux eröffnet wurde. Mein Sohn wollte da unbedingt ein Foto mit ihm machen.

1996 verloren Sie die Uefa-Cup-Finalspiele gegen den FC Bayern (0:2, 1:3).
Im Rückspiel waren Zidane und Christophe Dugarry gesperrt. Die Bayern hatten mit Franz Beckenbauer, der kurz zuvor zum Trainer ernannt wurde, einen neuen Schub. Aber trotz allem ein großes Ereignis für uns und in meiner Karriere.

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Équipe tricolore im Finale wäre Euphorie-Höhepunkt

Wie war die Stimmung in Frankreich während der EM bisher?
Es wurde immer besser, wie bei einem Crescendo. Am Anfang waren alle ein bisschen unsicher. Aber die Stadien waren sofort voller Freude. Mit den neuen, kleinen Ländern gab es frischen Wind. Die Ängste und Befürchtungen, die man hatte, sind zum Glück, bis auf die Ausnahmen mit den englischen und russischen Hooligans, nicht bestätigt worden.

Ihr EM-Zwischenfazit fällt also positiv aus?
Äußerst positiv. Und das Schönste kommt ja noch, mit den beiden Halbfinals und dem Finale. Und wenn die Équipe tricolore es schafft, ins Finale einzuziehen, dann ist die Euphorie in ganz Frankreich auf dem Höhepunkt.

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