Europameister Kohler schlägt Alarm: "Müssen unsere Abwehrspieler besser ausbilden"
München - AZ-Interview mit Jürgen Kohler: Der Welt- und Europameister (1990 und 1996) galt während seiner aktiven Karriere als einer der besten Innenverteidiger der Welt. Mit dem FC Bayern, Juventus Turin und dem BVB gewann der heute 55-Jährige neben der Champions League vier nationale Meisterschaften.
AZ: Herr Kohler, auch Tage nach dem deutschen Ausscheiden gegen England diskutiert Fußball-Deutschland über Sinn und Unsinn der Dreier-Kette. Was sagt ein ehemaliger DFB-Abwehrchef dazu?
JÜRGEN KOHLER: Ich kann diese Diskussion nicht nachvollziehen und halte sie auch für absolut überflüssig, denn entscheidend für die Abwehrleistung ist doch die individuelle Qualität der Spieler, die auf dem Platz stehen. Außerdem sind die Übergänge im heutigen Fußball eh fließend. Dreier- oder Vierer-Kette: Du musst als Abwehrspieler eh beides können, weil du ja auch mal während des Spiels umstellen musst. Deshalb halte ich diese System-Diskussion für falsch. Ich sehe eher woanders ein massives Problem.
Wo genau?
Ich denke, wir müssen in Deutschland schleunigst anfangen, unsere Abwehrspieler besser auszubilden. Dabei geht es eigentlich um Selbstverständlichkeiten in der Verteidigung: Wie schaffe ich es, dass ich meinen Gegenspieler immer vor mir habe, dass ich maximal eine Armlänge Abstand halte, dass ich mich nicht zu früh aus der Kette löse, sondern versuche, dem gegnerischen Stürmer Raum und Tempo wegzunehmen, damit man auch selbst mehr Zeit hat, sich wieder in eine bessere Stellung zu bringen. Das sind aber alles keine taktischen Fragen. Es fehlt die Individualität, die Spezialisierung. Und deshalb muss ich auch Jogi Löw ein bisschen in Schutz nehmen. Denn es ist nicht das System, sondern es sind immer noch die Spieler, die eine Partie gewinnen - oder eben verlieren.
Kohler: Die Systemfrage ist nicht relevant
Aus DFB-Kreisen war zu hören, dass die Spieler sich mit der traditionellen Viererkette wohler gefühlt hätten. Muss man als Trainer nicht auf solche Vorlieben Rücksicht nehmen?
Jetzt sind wir ja schon wieder bei der Systemfrage! Aber das ist für mich nicht relevant. Entscheidend ist doch: Wie verhalte ich mich zu meinem Gegenspieler? In der torgefährlichen Zone, also im Strafraum, spielt das System keine Rolle mehr, da muss ich eh Mann-bezogen spielen. Und wenn ich mich richtig an das England-Spiel erinnere, sind ja beide Gegentore im Strafraum vorbereitet worden.

Was ist bei der Ausbildung der Verteidiger in den letzten Jahren schief gelaufen?
Ich kritisiere schon seit mindestens zehn Jahren die fehlende Individualität - und bin dafür belächelt worden. Klar hat sich der Fußball verändert, Raum und Zeit haben abgenommen. Aber verteidigen bedeutet nun mal - im wahrsten Sinne des Wortes - etwas verteidigen. Und in Deutschland geht es heute beim Verteidigen eigentlich hauptsächlich nur noch ums Verschieben. Und darüber hinaus soll der Innenverteidiger auch noch der erste Aufbauspieler, schon fast ein Zehner sein. Die Kernkompetenz eines Abwehrspielers muss aber das Verteidigen sein. Wenn Sie ein Haus bauen, fangen Sie ja auch nicht mit dem Dach an.
Deutschland war nicht so stabil wie England oder Italien
Bei insgesamt sieben Gegentoren in vier EM-Spielen dürfte Sie das frühe Turnier-Aus der DFB-Elf kaum überrascht haben, oder?
Nein, ich hatte mir es natürlich anders erhofft. Aber so stabil wie zum Beispiel England oder auch Italien, die beide ohne Gegentore durch die Vorrunde gekommen sind, waren wir einfach nicht.
Allein an der berühmten Stabilität kann es ja auch nicht gelegen haben. Bei der Europameisterschaft 1996 hatte das deutsche Team mit einem wahren Verletzungsfluch zu kämpfen und holte am Ende trotzdem den Pokal. Sie waren ja damals dabei: Wo liegt der Unterschied zum aktuellen Kader?
Berti Vogts hat das als Bundestrainer einfach toll gemacht, weil er eine charakterlich einwandfreie Truppe zusammengestellt hat. Diese Verletzungsmisere hat uns damals noch enger zusammengeschweißt. Genauso wie jetzt die Dänen. Schauen Sie sich mal an, was mit der Mannschaft nach dem schlimmen Zwischenfall mit Christian Eriksen passiert ist. Ich würde die Dänen auf keinen Fall unterschätzen.
Hansi Flick übernimmt nun eine deutsche Nationalmannschaft mit einer nicht zu übersehenden Abwehrschwäche. Wo muss der neue Bundestrainer ihrer Meinung nach als Erstes ansetzen?
Kurzfristig kann der Hansi da gar nichts machen. Denn er hat ja keinen Einfluss auf die methodische und didaktische Ausbildung der Nachwuchsspieler. Und ich weiß, wovon ich rede, ich habe ja selbst mal zwei Jahre im Jugendbereich gearbeitet. Ich habe gesehen, was da falsch läuft.
Hat man auch beim DFB Fehler gemacht?
Da müssen Sie beim DFB nachfragen. Ich wundere mich aber, wie viel PS da auf der Straße liegengelassen werden. Ein Mehmet Scholl, ein Lothar Matthäus, ein Stefan Effenberg, ein Andi Brehme – das sind alles echte Gewinnertypen. Und die werden vom DFB nicht eingebunden? Da lange ich mir doch an den Kopf!