Scholl Guevara: Aufruf zur Revolte

Wien - Mit Folklore hatte Mehmet Scholl im schwül-heißen Ernst-Happel-Stadion nichts am Hut. Während sich die Heim-Fans kurz vor Anpfiff mit dem Radetzky-Marsch und dem Fendrich-Schlager „I am from Austria” in rot-weiß-rot Euphorie schunkelten, hatte sich der Ex-Bayern-Profi für seinen Auftritt als TV-Experte am Rande des WM-Qualifikationsspiels der DFB-Elf in Österreich wohl etwas zurechtgelegt.
„Ich möchte noch was zur EM sagen”, eröffnete Scholl am ARD-Mikrofon den Abend und holte aus: „Zuerst war Jogi Löw der Super-Trainer, und drei Tage später ist alles im Eimer. So kann es ja auch nicht sein. Wir haben 30 Millionen Bundestrainer.” Nicht mehr? Egal. So weit, so kuschelig. Scholl ist ja auch einer, ein Trainer - beim FC Bayern II, Regionalliga. Und Bundestrainer-TV-Kritiker. Als solchen trieb ihn offenbar seit Wochen eine Sache um. „Die Frage, die mich beschäftigt hat, ist: Es hat sich gegen Griechenland ein Team gefunden, das funktioniert hat.” Korrekt. Mit den mutigen, riskanten Hereinnahmen von Reus, Schürrle und Klose gewann man furios mit 4:2. Vor dem Halbfinale gegen Italien überraschte Löw Fans, Medien und Mannschaft, da er wieder Gomez und Podolski, dazu Kroos brachte – die Spielerfrischer wurden wieder aussortiert – 1:2 hieß es am Ende.
Und nun fragte Scholl: „Warum ist es nicht möglich, dass sich nach so einem Spiel vier oder fünf Spieler finden, die zum Trainer gehen und sagen: ,Trainer, wir wissen, Sie haben vielleicht was anderes vor. Aber wir haben uns jetzt gefunden. Wir wollen jetzt nichts ändern! Wir wollen so dieses Turnier gewinnen.’”
Da ruft einer zur Revolution auf – wenn auch im Nachhinein. Scholl Guevara.
Hätten es die Nationalspieler etwa machen sollen wie die Bayern-Profis in der Champions League im Frühjahr 2009, als sie sich recht wenig um die Taktik des Trainer-Praktikanten Jürgen Klinsmann scherten und in Eigenregie bei Sporting Lissabon 5:0 gewannen.
Scholl gestern weiter, etwas diplomatischer: „Wir haben einen sehr guten Bundestrainer, keine Frage. Was wir brauchen, sind Spielertypen, die vielleicht auch mal einen anderen Plan haben als der Trainer. Ich weiß nicht, ob diese Art von Hörigkeit so gut ist.” Hört, hört! Doch wer könnte Ziel dieser Attacke sein? Doch nur Kapitän Philipp Lahm und sein Stellvertreter Bastian Schweinsteiger, vielleicht noch Routiniers wie Klose.
Genau in Scholls Argumentation passte ja dann, dass es Marco Reus war, der kurz vor der Pause das 1:0 erzielte. Zur Halbzeit bauten sich Moderator Gerhard Delling und Scholl direkt vor dem Eingang zur Kabine auf, so dass Löw direkt an ihm vorbei musste. Scholl bekam einen Schubser – jedoch von Ersatzspieler Per Mertesacker, ganz freundschaftlich.
Das Spiel verfolgte er von einem Klappstuhl auf der blauen Tartanbahn direkt hinter der Bande. In Zurufweite.
Mehmet Scholl ist ja auch Trainer, wenn auch ein paar Klassen tiefer. Am Wochenende verlor er mit FC Bayern II gegen Frohnlach mit 0:1. Daraufhin sagte er in einem 13-sekündigen Auftritt vor der Presse, dass er nichts sagen wolle. Er müsse das alles erst verdauen.
Nun hat er sich Luft gemacht. Bei einem anderen Thema.