Nach Benfica-Zittersieg: Prüfungsangst beim FC Bayern

München -Pep Guardiola reckte und streckte sich, hob den Daumen. Als Manuel Neuer seinen Coach an der Seitenlinie sah, nickte er. Guardiola applaudierte mit den Händen über dem Kopf. Es lief die Nachspielzeit gegen Benfica Lissabon, noch wenige Sekunden waren zu spielen. Der Bayern-Torhüter erntete dieses überschwängliche, ehrlich gemeinte Trainer-Lob für eine Todsünde.
Lesen Sie hier: Arturo Vidal - Die Wiedergeburt des "Kriegers"
Neuer hatte den Ball außerhalb seines Strafraums hoch und weit nach vorne gedroschen – aber nicht blind, sondern auf den rechten Flügel zu Kingsley Coman, der mit ein paar Dribblings vor der Eckfahne weitere Sekunden von der Uhr nahm. Dann war es geschafft, das 1:0 über die Zeit gerettet. Bayern und Guardiola können auch so. Minimalistisch.
Müller fehlt die "Geilheit"
Ein Champions-League-Hinspiel in der K.O.-Phase ist viel Taktiererei, ein Belauern und Beobachten auf dem Platz. 90 Minuten als Ouvertüre fürs Rückspiel am kommenden Mittwoch (20.45 Uhr, ZDF, Sky und im AZ-Liveticker) im "Estadio da Luz". Portugals Meister präsentierte sich zäher und widerstandsfähiger als erwartet, brachte Bayern hin und wieder in Verlegenheit. Am Ende stand der knappe Heimsieg, der elfte hintereinander in der Königsklasse – und die Erleichterung, kein möglicherweise folgenschweres Gegentor kassiert zu haben.
"Woche für Woche geht jeder immer von einem Kantersieg aus. Es muss aber auch mal ein 1:0 reichen", sagte Neuer gelassen. Torhüter haben nach einem Zu-Null leicht reden. Und die Stürmer? Thomas Müller meinte: "1:0 ist ein gutes Heimergebnis. Es war daher nicht nötig, dass wir zu viel riskieren. Wir müssen jetzt nochmal die gleiche konzentrierte Leistung abrufen, vielleicht mit ein bisschen mehr Feingeist und Esprit." Ihm fehlte das Künstlerische ebenso wie die "Geilheit" (O-Ton) – auf weitere Tore. Wo war der Killerinstinkt, dieses Viertelfinale bereits in Spiel eins zu entscheiden?
Lesen Sie hier: So oft kam Bayern nach einem 1:0 im Hinspiel weiter
Neuer sprach von einer "engen Kiste" in Lissabon, Guardiola jedoch meinte lässig: "Im Viertelfinale macht immer das zweite Spiel den Unterschied." Wie Tag und Nacht. Wie die Bayern in der Hin- und in der Rückrunde.
Es war das dritte 1:0 hintereinander. Vor der Länderspielpause in Köln, letzten Samstag gegen Eintracht Frankfurt. Findige Statistiker hatten gleich in der Nacht nach dem Spiel parat, dass drei 1:0-Pflichtspielsiege in Folge Bayern zuletzt im September 2005 gelangen. Nein, nicht unter Ottmar Hitzfeld, unter Felix Magath. Hat Guardiola etwa das Training umgestellt? Fünf gegen Zwei mit Medizinbällen?
"Die Durchschlagskraft ist nicht mehr so effizient"
Natürlich nicht. Dennoch fällt auf: Der Erlebnisfußball der Hinrunde ist mittlerweile einem nüchterneren Ergebnisfußball gewichen. Man spielt auch nicht mehr so befreit drauf los wie noch im Herbst, als hohe Siege gegen Arsenal, Dortmund und Wolfsburg mit je fünf Toren beeindruckten. "Den Bayern fehlten ein wenig die Frische und die letzten zündenden Ideen", analysierte Ex-Trainer Ottmar Hitzfeld bei "Sky" und sagte: "Die Durchschlagskraft ist nicht mehr so effizient wie noch vor drei oder vier Wochen."
Weil die Schultern schwerer sind, der Druck höher ist. Weil man seit Beginn der Spielzeit im August darauf hingearbeitet hat, sich in die Situation zu bringen, dass man ab April noch um das Triple spielt? Die Zeit ist gekommen, die Mannschaft muss (ab-)liefern, die Klausuren stehen an, "nach monatelangem Büffeln", wie Vorstandsboss Karl-Heinz Rummenigge sagte. Hat Bayern etwa Prüfungsangst? Fehlt neben Geilheit und Esprit auch die nötige Lockerheit?
Lesen Sie hier: "Es muss auch mal ein 1:0 reichen"
Ja. Denn erst mit dem Halbfinale wäre das Mindestziel der Champions League erreicht und mit Blick auf den scheidenden Pep Guardiola die Wiederholung der beiden ersten Amtsjahre. Der 116. Sieg in seinem 150. Pflichtspiel war ein strategischer, ein cleverer – wenn es im Rückspiel nicht schief geht. Niemand glaubt daran.
Auch Guardiola nicht. "Wir werden nach Lissabon fliegen, um das Spiel zu gewinnen. Ich habe Vertrauen in meine Mannschaft." Der Wow-Effekt ist weg, am Hurra-Stil hängt Herbstlaub. Am Ende zählen jedoch Ergebnisse. Mit mehreren 1:0 wurde Deutschland 2002 Vize-Weltmeister, Spanien holte 2010 so den WM-Titel. Hauptsache die Null steht. Viele Grüße an Huub Stevens!