Klub-Legende über Bayerns ersten Europacup-Sieg: "Waren fertig mit der Welt – dann kam Katsche"
AZ: Herr Breitner, Sie haben in Ihrer Karriere einige Endspiele bestritten – mit dem FC Bayern und mit der deutschen Nationalelf. Wo ordnen Sie die Partien in Brüssel gegen Atlético Madrid vor genau 50 Jahren ein? Das 1:1 nach Verlängerung am 15. Mai 1974 und das Wiederholungsspiel nur zwei Tage später?
PAUL BREITNER: Es war nicht mein erster, aber zum damaligen Zeitpunkt mein größter Titel mit dem FC Bayern. Sehr besonders war auch der DFB-Pokalsieg 1971 als wir in Stuttgart mit 2:1 nach Verlängerung gegen den 1. FC Köln gewonnen haben. Am Ende des ersten Jahres, nachdem ich 1970 nach München gekommen war, meinen ersten Titel im Profibereich zu feiern, war großartig – noch dazu am Tag vor meiner Hochzeit mit Hilde. Ich habe nur kurz darauf angestoßen, denn am Tag danach, am Sonntag um 10 Uhr fand unsere Trauung durch den Bürgermeister von Freilassing statt.
Wenn ein großes Finale wie das 1974 in Brüssel anstand, wie nervös waren Sie davor? Konnten Sie nachts gut schlafen?
Damit hatte ich nie Probleme. In mir kam immer nur dann eine kurze Phase der Nervosität auf, wenn wir im Bus saßen und zum Stadion gefahren sind. Ich habe dann ein paar mentale Übungen gemacht, eine Art autogenes Training, um mich zu konzentrieren, um mit meiner Unruhe oder Nervosität fertig zu werden. Das hatte ich schon länger praktiziert.
Der FC Bayern im Europacup-Finale 1974: So hielt Paul Breitner seine Nervosität unter Kontrolle
Wie sah das aus? Geben Sie uns bitte ein Beispiel.
Es geht darum, den Kopf und all die Gedanken herunterzufahren und sich beispielsweise beim Blick aus dem Busfenster nur auf einen Baum oder andere Dinge zu fokussieren, an dem man gerade vorbeifährt. Beim Aussteigen aus dem Bus war das Thema für mich erledigt.
Und im Stadion? Beim Aufwärmen? Man sieht die Fans, spürt die Erwartungshaltung.
Ich wusste, wenn ich gut drauf war. Und dann war ich auch nicht nervös vor dem ersten Pass im Spiel wie manch andere.
Auch Uli Hoeneß war 1970 als junger Spieler zum FC Bayern gekommen, er war bis zum Ende der Saison 1974 Ihr Zimmerpartner. War Hoeneß nervös?
Nein, wir kannten uns ja schon seit den Zeiten in der Jugendnationalmannschaft. Jeder ist mit sich fertig geworden, der eine hat sich auf den anderen verlassen können.
Wie sah damals der Tagesablauf im Hotel aus? Schließlich war der Anstoß wie üblich im Europapokal spät abends.
Wie jeder andere, wie zig Mal zuvor. Am Finaltag wollte ich nichts anders machen, mich nur auf meine Leistung konzentrieren. Du darfst die einzelnen Spiele nicht gewichten, sonst setzt du dich zu sehr unter Druck, machst dich verrückt. Wir haben mit dem FC Bayern in meiner ersten Saison im Messestädte-Pokal gespielt, einem Vorläufer des danach eingeführten Uefa-Cups. Dann kam der Europapokal der Pokalsieger und der Landesmeister-Wettbewerb. Wir haben gefrühstückt, um 9.30 Uhr einen Spaziergang gemacht. Mittagessen, dann Bettruhe. Dann Kaffee und Kuchen und die Spielbesprechung. Danach Abfahrt zum Stadion.

Darum sollten die Spieler am Spieltag nicht Karten spielen
Heutzutage gibt es das Anschwitzen, meist im Hotel. Zur Aktivierung...
Das haben wir nicht gemacht, ich finde es auch nicht sinnvoll. Wichtig ist das unmittelbare Aufwärmen vor dem Spiel im Stadion.
Also wurde der Tag lang...
Den Verantwortlichen war vor allem wichtig, dass wir nicht irgendwo im Hotel oder außerhalb rumrennen, deshalb hieß es: Bettruhe! Wir sollten auch nicht Kartenspielen. Nicht, dass einer noch vor dem Finale zu viel Geld verdient. (lacht) Oder verliert!
War der FC Bayern damals vor dem Endspiel gegen Atlético der Favorit?
Ich wollte immer der Favorit sein und nicht der Außenseiter. Sonst denkt man doch, die anderen sind besser.
Was wusste man in der Prä-Internet-Zeit eigentlich über den Gegner und die Spieler?
Wir wussten nicht, wie heute, welche Farbe die Unterhose vom Großvater des linken Verteidigers hat. (lacht) Unser Trainer Udo Lattek hat uns das Wichtigste, spezielle Besonderheiten, über die Mannschaft und deren Spiel mit auf den Weg gegeben. Ein Beispiel.

Paul Breiter: "Wir haben gezeigt, dass wir die Besten in Europa sind"
Bitte.
Atléticos Angreifer Luis Aragonés war als erster und einziger damals so clever, bei Freistößen rund 20, 22 Meter vor dem gegnerischen Tor im Rücken des Schiedsrichters den Ball ein, zwei Schritte weiter zurückzulegen. So hatte er den gewünschten Abstand und Winkel zum Tor. Davor hat uns Lattek gewarnt. Wir haben geschlafen, hätten als Mauer ebenfalls ein, zwei Schritte nach vorne machen müssen, nachdem der Schiedsrichter die Distanz abgeschritten war. Wir Deppen sind stehengeblieben. Heutzutage gibt es das Freistoßspray.
So fiel in der 114. Minute der Verlängerung durch den Freistoß-Schlenzer von Aragonés das 0:1.
Wir waren fertig mit der Welt. Dann kam zum Glück der Katsche.

Vorstopper Hans-Georg Schwarzenbeck und sein Ausflug über die Mittellinie samt Weitschuss-Treffer aus rund 25 Metern.
Atlético-Torwart Miguel Reina hat später zugegeben, dass deren Trainer Juan Carlos Lorenzo der Mannschaft gesagt hat: Ihr müsst vorsichtig sein bei Weitschüssen von Breitner oder Hoeneß. Wenn aber der Hansen oder der Schwarzenbeck kommen, die könnt ihr laufenlassen, die sind nicht torgefährlich. Katsche hat geschaut und schnell geschossen. Damit hatte Reina nicht gerechnet.

Das 1:1 in der 120. Minute – aber es gab kein Elfmeterschießen, sondern zwei Tage später an Ort und Stelle ein Wiederholungsspiel. So wollten es damals die Regularien.
Da haben wir dann wieder zu unserer Normalform gefunden, im ersten Endspiel waren wir bei 80 Prozent. Wir haben von Anfang an das Heft in die Hand genommen, sind nach vorne marschiert. Der Gerd (Müller, d. Red.) und der Uli haben je zwei Tore gemacht. Wir haben gezeigt, dass wir die Besten in Europa sind.