Jupp Heynckes im AZ-Interview: "Matthäus einer der größten Spieler Deutschlands"
Der legendäre Bayern-Coach, der den Verein 2013 zum ersten Triple der Vereinsgeschichte geführt hat, ist auch der Entdecker von Deutschlands Rekordnationalspieler Lothar Matthäus, der am Sonntag seinen 60. Geburtstag feiert.
Jupp Heynckes spricht über Jubilar Lothar Matthäus im AZ-Interview
AZ: Herr Heynckes, Sie gelten als Entdecker und Förderer von Lothar Matthäus, haben die Grundlage der Weltkarriere des Jubilars gelegt. Wie war das, als Sie den 18-jährigen Lothar 1979 beim 1. FC Herzogenaurach entdeckt haben?
JUPP HEYNCKES: Da muss ich kurz ausholen. Ich hatte 1978 meine Karriere als Spieler bei Mönchengladbach beendet, war in der Saison darauf ein Jahr lang Assistent von Cheftrainer Udo Lattek, den ich dann im Sommer 1979 abgelöst habe. Lothar habe ich im Frühjahr 1979 erstmals gesehen. Ich weiß noch genau, dass ich an einem Sonntagmorgen ganz früh nach Nürnberg geflogen bin, damit ich ihn in einem Spiel der A-Jugend um 10.30 Uhr beobachten konnte. Lothar war der beste Spieler auf dem Platz, machte zwei Tore. Ich habe mich immer wieder etwas ängstlich umgeschaut, ob ich nicht irgendjemanden aus der Bundesliga erblicke, der wegen ihm vor Ort war. Das war zum Glück nicht der Fall.
Wie sind Sie überhaupt auf Matthäus gekommen? Wie muss man sich das vorstellen Ende der 70er Jahre - ohne Handyvideos und Internet?
Sie haben Recht, es gab kein Scouting-System damals, nur Mund-zu-Mund-Propaganda in Form von Telefonaten oder Briefen. Aber man hatte überall seine Späher. Es war natürlich eine glückliche Fügung, dass Lothars Vater beim Sportartikelhersteller Puma in Herzogenaurach als Hausmeister gearbeitet hat. Da ich als Spieler einen Ausrüstervertrag mit dieser Firma hatte, kannte ich Hans Nowak gut, der damals vor Ort als Sportmarketingdirektor für Puma arbeitete. Nowak, ein früherer deutscher Nationalspieler, rief mich an und berichtete mir von einem außergewöhnlichen Talent.
Heynckes entdeckte Matthäus Talent als Fußballer Ende der 70er Jahre
Er sollte recht behalten. Wie lief der Tag in Herzogenaurach ab?
Das Kuriose war, dass Lothar um 15 Uhr erneut aufgelaufen ist. Mit der Senioren-Mannschaft in der Landesliga gegen Vohenstrauß, erneut über die volle Distanz. Wieder war er der beste Mann auf dem Platz, wieder schoss er zwei Tore. Also habe ich kurzerhand meinen Rückflug an diesem Abend storniert und unseren Manager Helmut Grashoff telefonisch informiert, dass ich den Jungen für Mönchengladbach verpflichten möchte. Nach dem Spiel haben wir uns im Vereinsheim zusammengesetzt und miteinander gesprochen.
Ihnen spielte in die Karten, dass Matthäus ein Fan der Fohlen war und als Kind in Borussia-Bettwäsche schlief.
Stimmt. Am nächsten Tag hat er ein Probetraining bei der Borussia absolviert. Lothar war ein flotter, couragierter Junge, trat sehr energisch auf. Er kannte keinen Respekt vor den arrivierten Profis, keine Hemmungen, hat sich schnell Respekt verschafft. Das zu beobachten, war eine wahre Wonne.
Von Raumausstatter zum Profifußballer: Lothar Matthäus
Matthäus hat überzeugt. Bereits nach dem ersten von vier Tagen Probetraining unterschrieb er einen Vertrag.
Ja, für drei Jahre. Helmut Grashoff wollte sofort Nägel mit Köpfen machen. Lothar hat dann noch seine Raumausstatter-Lehre beendet und am 22. September 1979 bei unserem 2:4 auf dem Betzenberg gegen den 1. FC Kaiserslautern sein Bundesliga-Debüt gegeben.

In der Startelf und über 90 Minuten. Von da an bestritt Matthäus bis Saisonende alle 28 Bundesliga-Partien, 27 von Beginn an. Im Uefa-Cup erreichten Sie mit der Borussia die Finalspiele gegen Frankfurt, die sie aufgrund der Auswärtstor-Regel verloren. Auch im Europacup war Matthäus sofort Stammspieler, machte elf der zwölf Spiele. Ein kometenhafter Start.
Einzigartig im deutschen Fußball. Das war ein Triumphzug bis hin zum Saisonende. In seiner ersten Profisaison war er unser bester Spieler, wurde danach für die EM 1980 in Italien nominiert und gab dort sein Länderspiel-Debüt. Ich war von Beginn an überzeugt von seinen Fähigkeiten, hatte aber natürlich nicht diese Weltkarriere vor Augen. Eine seiner herausragenden Tugenden bestand darin, dass er in jedem Training - egal, zu welcher Uhrzeit oder Jahreszeit voll bei der Sache war. Matthäus hat nie mal halblang gemacht, immer absolut top trainiert. Dazu kamen seine beispiellose Physis, seine Ausdauer und seine Explosivität, die zu seinem unwiderstehlichen Antritt führte. Für einen 18-Jährgen war das alles nicht üblich.
"Die etablierten Spieler akzeptieren ihn schnell, weil da einer kam, der anders war"
Wie haben eigentlich Ihre etablierten Mittelfeldspieler auf den Neuen reagiert, der so forsch auftrat?
Ich habe in meiner Trainerkarriere nie nach Namen aufgestellt, sondern rein nach Leistung. Die etablierten Spieler akzeptieren ihn schnell, weil da einer kam, der anders war. Ich habe Lothars Fähigkeiten gesehen, wollte ihn fördern und fordern.
Laut Matthäus haben Sie ihn "vom Stürmer zum defensiven Mittelfeldspieler gemacht. In den ersten ein, zwei Jahren war ich der Kettenhund für die Spielmacher", sagte er.
In der A-Jugend war er in meinen Augen kein richtiger Stürmer, hatte aber nach vorne alle Freiheiten. Er dribbelte die Gegenspieler aus und erzielte dank seiner Dynamik seine Tore. Als Teenager bist du noch in der Lernphase, vor allem im taktischen Bereich. Auch ich habe ihn einmal gegen Kevin Keegan Manndeckung spielen lassen, um den HSV-Star aus dem Spiel zu nehmen. In der Nationalelf hat er dann im WM-Finale 1986 direkt gegen Argentiniens Superstar Diego Maradona gespielt.
Heynckes erinnert sich zurück: "Lothar hat nichts ausgelassen"
Im Laufe seiner Karriere rückte Matthäus nach hinten - bis auf die Libero-Position.
Er hat Zug um Zug taktische Raffinesse dazugewonnen, wurde mehr zum Ballverteiler, hat auch mal das Tempo variiert. Zu Beginn seiner Laufbahn hat er immer den kürzesten Weg zum Tor gesucht. Später hat er gelernt, dass er nicht nur über Kraft und Schnelligkeit seinen Spielstil aufbauen kann. Diese Fähigkeit hat er dann bravourös durchgezogen.
Matthäus bezeichnet Sie im "Kicker" als "Ausbilder", sagte: "Jupp hat mich gefördert, aber auch in den Arsch getreten. Er stand immer zu mir. Selbst dann, als ich als Teenager Blödsinn gemacht und nicht die nötige Disziplin mitgebracht habe." Was kommt Ihnen da spontan in den Sinn?
Ach, wissen Sie, Profis in diesem Alter sind eben junge Menschen, die mal über die Stränge schlagen und unvernünftige Dinge tun. Über so manches habe ich hinweggesehen, und wenn es nötig war, war ich auch streng. Ich sage es mal so: Lothar hat nichts ausgelassen (schmunzelt).
Springen wir ins Jahr 1984, zum Pokalfinale Ihrer Borussia gegen den FC Bayern. Vor dem Endspiel wird Matthäus' Wechsel zum großen Rivalen nach München bekannt. Im Elfmeterschießen ballerte Matthäus übers Tor - ausgerechnet gegen seinen künftigen Verein. Gladbach verlor.
Er wollte nicht schießen. Mein Problem war: Kaum einer meiner Spieler wollte antreten. Da habe ich ihm gesagt: "Lothar, du bist ein großer Spieler, da musst du jetzt durch." Leider hat er mit der Innenseite geschossen. Mit dem Spann hätte er Torwart Jean-Marie Pfaff wohl mit ins Netz geschossen. Das verlorene Finale war eine große Enttäuschung für unsere Fans, für uns alle - aber wir haben es überlebt.

Matthäus und Heynckes Zeit beim FC Bayern
1987 sind Sie Matthäus zum FC Bayern gefolgt, haben erneut Udo Lattek beerbt.
Lothar hatte einen großen Stellenwert in der Mannschaft, war mit Kapitän Klaus Augenthaler einer der Führungsspieler. Obwohl wir uns aus Mönchengladbach gut kannten, hatte Lothar keine Privilegien. Wir sind zwar Vize-Meister geworden - und tja, das ist in München zu wenig.
Matthäus galt damals als einer, der stets Endspiele verliert. 1984 im Gladbach-Trikot samt dem verschossenen Elfer, 1986 bei der WM gegen Argentinien und 1987 mit den Bayern gegen Porto - als haushoher Favorit im Finale des Europapokals der Landesmeister.
Auch in der Karriere von großen Spielern gibt es viele Ups and Downs. Er stand in der Kritik damals, es herrschte große Unzufriedenheit in München. Man hat diese Final-Pleiten zum Teil an ihm aufgehängt, das war aus meiner Sicht ungerecht. Dann kam das äußerst lukrative Angebot von Inter Mailand.

Zum zweiten Mal haben Sie Matthäus abgeben müssen, erneut als Spieler und Führungsfigur verloren. Und das nach Ihrem ersten Jahr in München.
Von seiner Konstitution war Lothar immer sehr robust, aber als Mensch sensibel. Der Wechsel zu Inter in die damals sehr attraktive Serie A war für ihn und seine Entwicklung sehr wichtig. Eine andere Kultur, eine andere Sprache, ein anderes Ambiente. Er wurde in Italien mit offenen Armen empfangen, aber auch mit Respekt. Er hat sich schnell wohlgefühlt und überragend gespielt.
Rekordnationalspieler: Fünf WM-Endrunden und einmal Weltmeister
Sie konnten den Wechsel nicht verhindern?
Nein, das war sein Wunsch, sein Streben - und finanziell war es eine andere Dimension.
Trotz Matthäus' Weggang sind Sie mit den Bayern 1989 erstmals Meister geworden.
Auch Andy Brehme ist ja mit Lothar zu Inter gewechselt. Aber wir hatten junge Spieler wie Olaf Thon, Stefan Reuter und Roland Grahammer verpflichtet. Die Erneuerung war positiv für den FC Bayern. Aber ich möchte noch einmal zu Lothar kommen.
Natürlich, bitte.
Seine sportliche Vita als Spieler ist unglaublich. Wenn man nur die Liste der Titel und Auszeichnungen nimmt. Er ist Weltmeister, zwei Mal Vizeweltmeister, hat an fünf WM-Endrunden teilgenommen, das haben nur ganz wenige geschafft. Er ist Deutschlands Rekordnationalspieler, ist als einziger Deutscher Weltfußballer geworden. Er wurde zwei Mal zu Deutschlands Fußballer des Jahres gewählt. 1990 und im Alter von 38 Jahren 1999 - also neun Jahr später! - noch einmal. Und das, obwohl er zwei Horror-Verletzungen hinter sich hatte: einen Kreuzbandriss und einen Achillessehnenriss. Für mich ist er einer der größten Spieler in Deutschlands Fußballhistorie. Es hat zwar nach Ende seiner Karriere etwas gedauert, aber mittlerweile ist er zu einer großen Sport-Persönlichkeit gereift.

Lothar Matthäus als Trainer: "Aus meiner Sicht waren seine Stationen zu unkoordiniert"
Kommen wir zu Matthäus' Trainerkarriere, die aufgrund seiner Engagements als Coach in Wien, Belgrad, Brasilien, Salzburg und Israel sowie als Nationalcoach in Ungarn und Bulgarien vielfältig verlief. Die Jobs dauerten meist kaum länger als ein Jahr, waren von durchschnittlichem Erfolg.
Ich bedaure sehr, dass Lothar nie ein Engagement in der Bundesliga hatte, da hätte ich ihn gerne gesehen. Er hätte sicher all die Kenntnisse und Erfahrungen aus seiner Karriere gut vermitteln können. Leider hat er die Chance nicht bekommen. Aus meiner Sicht waren seine Stationen zu unkoordiniert. Wenn er damals einen klugen Berater an seiner Seite gehabt hätte, wäre das förderlich gewesen. Nicht nur einen Manager für die kaufmännischen Dinge, sondern auch einen sportlichen Karriereplaner, der sagt: "Pass mal auf, dieser Klub ist nichts für dich." Oder auch: "Lass mal dies und jenes in der Öffentlichkeit weg." Im heutigen Fußball wird alles von Beratern durchleuchtet und auch für Trainer ein Karriereplan aufgestellt. Das hatte er nicht, da war er auf sich alleine gestellt. Dann wäre er vielleicht nicht so sprunghaft gewesen.

Haben Klubs wie der Hamburger SV oder der TSV 1860 möglicherweise Abstand von einer Verpflichtung des Trainers Matthäus genommen, weil der Mensch Matthäus mit seinen fünf Ehen in der Öffentlichkeit zu sehr präsent war?
Ich denke, sein bewegtes Privatleben war nicht förderlich. Aber mittlerweile gestaltet er seinen Lebensweg großartig. Er hat sich entwickelt und wird von den Menschen allumfänglich respektiert. Wahrscheinlich musste er zunächst sich und seine Bestimmung finden.

"Lothar ist ein guter Experte, der ungeschminkt seine fundierte Meinung äußert"
Matthäus' Expertise bei TV-Sender Sky sind gefragter denn je, er gehört zu den anerkanntesten Fernseh-Experten.
Das finde ich auch, man hört ihm gerne zu. Lothar ist ein guter Experte, der ungeschminkt seine fundierte Meinung äußert und authentisch rüberkommt. So war er schon immer. Ein Mensch, der sich nicht verstellt, sondern klipp und klar, aber nie verletzend seine Meinung äußert. Frei heraus - auch wenn das für manche hin und wieder unbequem sein kann. Lothar ist ein ehrlicher, positiv denkender, warmherziger Mensch, immer hilfsbereit.
So hilfsbereit, dass er nach der angekündigten Rückkehr von Joachim Löw die Nationalmannschaft im Anschluss an die EM übernehmen sollte?
Das sind alles Spekulationen. Ich habe generell das Gefühl, dass er tief zufrieden ist mit seinem aktuellen Leben.
Heynckes Wünsche für den Jubilar Matthäus
Wann hatten Sie zuletzt Kontakt mit Matthäus?
Als er im vergangenen Spätsommer mit Andy Brehme das Treffen der Weltmeister von 1990 samt Trainerstab organisierte, hat er mich angerufen und gefragt, ob ich auch nach Italien kommen möchte. Darüber habe ich mich sehr gefreut, ihm aber abgesagt, weil ich in Zeiten der Corona-Pandemie nicht verreisen möchte.
Was wünschen Sie Matthäus zum 60. Geburtstag?
Natürlich nur das Allerbeste, vor allem Gesundheit und Zufriedenheit für das kommende Lebensjahr und darüber hinaus. Ich werde ihn anrufen, um persönlich zu gratulieren.