Heftige Kritik am FC Bayern nach Boateng-Wirbel: "Aussage des Sportchefs war ein fatales Signal"

München - So richtig ruhig wird es rund um den FC Bayern München nie. Aktuelles Aufreger-Thema war eine mögliche Verpflichtung des derzeit vereinslosen Ex-Spielers Jérôme Boateng (35), der die personell schwachbesetzte Defensive der Münchner hätte aufstocken können. Doch wie am Freitag bekannt wurde, haben die Münchner Abstand von einer Verpflichtung genommen - obwohl Boateng schon die ganze Woche seine Fitness an der Säbener Straße unter Beweis stellen sollte.
"Jérôme Boateng wird nicht in den Kader des FC Bayern München zurückkehren. Dies hat der FC Bayern München an diesem Freitag entschieden und dem langjährigen Bayern-Profi mitgeteilt (...)", hieß es auf der offiziellen Homepage der Bayern. "In der Betrachtung aller Aspekte hat der FC Bayern jetzt entschieden, auf eine Verpflichtung von Jérôme Boateng zu verzichten. Gleichzeitig wurde ihm als einem verdienten Spieler des Vereins angeboten, sich weiterhin beim FC Bayern fit zu halten. Jérôme Boateng präsentierte sich in guter körperlicher Verfassung."
Es ging am Ende darum, ob die Klubverantwortlichen Boateng mit einem Vertrag bis Saisonende ausstatten wollen. Eingeplant wäre Boateng als "Backup, der einspringen soll, wenn es sein muss" gewesen, so Bayerns Sportdirektor Christoph Freund im Vorfeld. Vor allem Bayern-Trainer Thomas Tuchel hält wohl große Stücke auf den Verteidiger und soll die treibende Kraft hinter einer möglichen Boateng-Verpflichtung sein. Nun kurz vor knapp der Rückzug. Es heißt, gerade Boatengs private Vorgeschichte und der damit verbundene Sturm der Entrüstung sollen den Ausschlag gegeben haben, den Verteidiger nun doch nicht zu holen.
Jérôme Boateng und das Damoklesschwert einer möglichen Verurteilung
Denn neben den sportlichen Aspekten schwebt auch weiterhin das Damoklesschwert einer möglichen Verurteilung wegen Körperverletzung über Boatengs Haupt. Zwar wurde das Urteil (1,2 Millionen Euro Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 10.000 Euro) am 21. September durch das Bayerische Oberste Landesgericht aufgrund eklatanter Rechtsfehler "in vollem Umfang" aufgehoben, aber abgeschlossen ist das Thema damit nicht. Im Frühjahr 2024 soll der Prozess neu aufgerollt werden, ein Freispruch ist dabei ebenso möglich, wie eine erneute Verurteilung.
Aus der Führungsetage hieß es, dass die juristische Situation einer möglichen Rückkehr Boatengs an seine alte Wirkungsstätte nicht im Wege stehen würde. "In erster Linie spielen die sportlichen Dinge bei den Überlegungen eine Rolle", betonte Sportdirektor Christoph Freund noch beschwichtigend. "Die private Geschichte ist kein großes Thema für uns". Das scheint nun nach der Absage etwas anders auszusehen.
Causa Jérôme Boateng: Satzungsänderung steht bevor
Denn auch die Fans standen der Causa Boateng und dessen juristischen Probleme von Anfang an ablehnend gegenüber. Allen sportlichen Meriten der Vergangenheit zum Trotz, wäre für viele Fans des deutschen Rekordmeisters eine Rückkehr von Jérôme Boateng ein absolutes No-Go gewesen. Sportdirektor Freund dazu: "Jeder hat seine eigene Meinung und jeder kann seine Meinung haben. Aber so wie sich die Situation darstellt, da gibt es auch die Unschuldsvermutung."
Und trotzdem hat der FC Bayern zeitgleich eine Satzungsänderung ins Spiel gebracht, in der er sich gegen jede Form von Gewalt, unabhängig davon, ob sie körperlich oder seelischer Art sei, stellt. Vor allem der letzte Teil hätte dem FC Bayern auf die Füße fallen können, wäre Jérôme Boateng verpflichtet und dann im Frühjahr wegen Körperverletzung rechtskräftig verurteilt worden – Boateng wäre in diesem Fall vorbestraft.
Frauenrechtlerinnen verweisen auf System, welches Profifußballer vor Anschuldigungen schützen würde
Wer in der Debatte um Boateng und seinen Prozess bisher kaum zu Worte kam, ist die Frauenseite. Denn in der Causa Boateng gibt es auch ein mutmaßliches weibliches Opfer. Zwar gilt für Boateng derzeit das Prinzip der Unschuldsvermutung, aber das aufgehobene Urteil wegen Körperverletzung und Beleidigung lässt sich nicht einfach so aus dem Gedächtnis löschen, nur weil ein Gericht dieses aufgehoben hat. Die AZ hat bei Terre des Femmes – Menschenrechte für die Frau e.V. (TDF) nachgefragt, wie man von frauenrechtlicher Seite die Situation um Boateng beurteilt. Johanna Wiest, Referentin für häusliche und sexualisierte Gewalt bei Terre des Femmes, ließ der Abendzeitung folgendes Statement zukommen:

"Partnerschaftsgewalt ist niemals 'Privatsache' – egal ob sie von prominenten Profifußballern ausgeht oder vom Arbeitskollegen, vom Nachbarn, oder vom besten Freund. Die Aussage des Bayern-Sportchefs ('Privatgeschichte') war ein fatales Signal – an alle Fans, an die Öffentlichkeit, an Betroffene und nicht zuletzt an Täter."
Terre des Femmes: "Der Verein mit den meisten registrierten Fans in Deutschland sollte Verantwortung übernehmen"
Weiter heißt es: "Jérôme Boateng wurde nicht freigesprochen. Das Urteil wurde zwar aufgehoben (aufgrund von Verfahrensfehlern), aber Staatsanwaltschaft und Nebenklage haben Revision eingelegt und fordern nun sogar eine höhere Strafe (dann möglicherweise wegen schwerer Körperverletzung). Der Fall wird nun vor einem anderen Gericht verhandelt. Hinzu kommt das Machtgefälle zwischen Angeklagtem und Klägerin. Es gibt Hinweise auf ein System, das Profifußballer vor Anschuldigungen schützt (Verschwiegenheitsverpflichtungen etc.). Als Gesellschaft müssen wir uns klar gegen häusliche Gewalt positionieren, auch als Arbeitgeber, oder als Sportverein. Der Verein mit den meisten registrierten Fans in Deutschland sollte dazu Verantwortung übernehmen.
In Deutschland ist jede vierte Frau statistisch gesehen mindestens einmal im Leben von sexualisierter oder körperlicher Gewalt betroffen. Solange diese Gewalt als 'Privatsache' abgetan und wird, können die Täter weiterhin scheinbar unbescholtene Bürger, Nachbarn, Freunde, Mitarbeiter und Teamkollegen sein.
Der Versuch des Sportchefs, die Vorwürfe gegen Boateng als 'privat' zu bagatellisieren, verweist auf ein strukturelles Problem: Gewalt gegen Frauen wird nach wie vor nicht ernst genommen, Betroffene müssen zusätzlich zur körperlichen Gewalt auch nach der Trennung Einschüchterung, Täter-Opfer-Umkehr und Victim-Blaming ertragen."
Boateng-Verpflichtung: Marken-Experte sieht Risiko für den Ruf des FC Bayern
Auch der der renommierte Markenexperte Christopher Spall befindet, dass der Ruf des FC Bayern durchaus einen gewissen Schaden hätte nehmen können: "Der FC Bayern ist auf dem Weg zurück zur Glaubwürdigkeit."
Das Chaos der Vorsaison mit der Entlassung des Trainers, des Sportdirektors und des Vorstandsvorsitzenden haben "Druck" auf die Marke gemacht. Die Identifikation hat ordentlich gelitten, selbst bei den Hardcore-Fans. Um die Identifikation wieder zu steigern, gilt es Nebenschauplätze zu vermeiden. Die mögliche Verpflichtung Boatengs wäre deshalb Gift für die Reputation des Rekordmeisters gewesen", so der Geschäftsführer der Markenidentitäts-Beratung Spall zur AZ.
Wie groß die negativen Konsequenzen für die Marke FC Bayern wären, hängt laut Spall stark davon ab, wie die gerichtliche Auseinandersetzung für Boateng ausgehen würde. "Ich frage mich, ob die sportlichen Chancen wirklich größer sind als die möglichen Kollateralschäden für den Verein als Ganzes", so der Markenexperte.
Selbst wenn Boateng sportliche Bestleistungen auf den Platz bringen sollte, hätte dies nicht dabei geholfen, von den privaten Vorwürfen, die im Raum stehen, abzulenken. "Sollte er erneut verurteilt werden, platzt die Bombe und der Verein hätte Boateng freistellen müssen. Der Medienrummel rund um die Mannschaft wäre dann vorprogrammiert. Für eine neu formierte Mannschaft und Ihren Trainer ist das das letzte, was man sich wünscht", erklärt Spall.
"Die Gesellschaft reagiert heute sensibler auf persönliches Fehlverhalten als früher"
Die Möglichkeit, dass der FC Bayern mit einer Boateng-Verpflichtung als moralischer Sieger hätte dastehen können, der sich um seine Spieler und Ex-Spieler sorgt, die mit den unterschiedlichsten Problemen zu kämpfen haben, wie es z.B. bei Gerd Müller, Franck Ribery oder Lucas Hernandez der Fall war, sieht Christopher Spall indes nicht.
"Familiärer Zusammenhalt ist zwar Teil der FC Bayern-DNA. Sollte der Verteidiger tatsächlich nochmal einen Vertrag in München bekommen, dann nicht, weil die Bayern ihren altverdienten Spieler aus der Patsche helfen wollen, sondern weil Löcher im Kader notdürftig gestopft werden müssen, um bis zum Winter wettbewerbsfähig zu bleiben. Jeder weiß das. Deshalb ist eine Verpflichtung als sozialer Akt nicht glaubwürdig."

Generell sieht Spall das Problem darin, dass die heutige Gesellschaft wesentlich sensibler auf persönliches Fehlverhalten reagiert als früher. "Vor kurzem wurde der Verbandschef und sein Weltmeistertrainer der spanischen Frauen-Nationalmannschaft zum Rücktritt gezwungen. Dabei ging es um einen Kuss im Überschwang nach dem Gewinn des Titels und nicht um ein gewaltvolles Verhalten, wie es bei Boateng im Raum steht. Marken, Unternehmen und wir alle müssen uns darauf einstellen", so der Marken-Experte.
Das sagt ein Sportrechts-Experte zum Thema Jérôme Boateng
Aber wie hätte sich nun der FC Bayern im Falle einer Verpflichtung und späteren Verurteilung Boatengs verhalten müssen? Die AZ hat bei Dr. Paul Lambertz, Anwalt und Experte für Sportrecht, erkundigt. Lambertz gibt zu verstehen, dass es keinerlei gesetzliche Beschränkung, rechtskräftig Verurteilte oder Angeklagte zu beschäftigen gibt. So muss der Arbeitgeber von Fall zu Fall individuell entscheiden, wie er mit den Vorwürfen bzw. rechtskräftig festgestellten Vergehen umgehen will.
"Im Falle von Herrn Boateng würde ich mir als Arbeitgeber die Frage stellen, ob er mein Team in der nächsten Saison sportlich unterstützen kann oder nicht", so der Sportrechts-Experte zur AZ.

Persönlich hält Lambertz nichts davon, einem Strafverfahren und einem entsprechenden Urteil vorzugreifen. "Wenn allein schon die Tatsache, dass ein Strafverfahren geführt wird, ausreichen würde, um das soziale Leben des Angeklagten unwiderruflich zu ruinieren, wäre von unserem Rechtsstaat m.E. nicht mehr viel übrig bzw. man könnte sich das Strafverfahren sparen. Die Gesellschaft muss die ungewisse Zeit zwischen Veröffentlichung der Vorwürfe und rechtskräftiger Beendigung eines Strafverfahrens aushalten."
Auch in der geplanten Satzungsänderung, in welcher der Verein FC Bayern jeder Form von Gewalt entgegentreten möchte, sieht Lambertz keine Auswirkungen auf eine mögliche Verpflichtung Boatengs. "Hier muss man fein gesellschaftsrechtlich aufpassen bzw. unterscheiden. Der Verein Bayern München ist nicht der Arbeitgeber von Herrn Boateng. Das ist die Aktiengesellschaft. Ändert der Verein seine Satzung und verpflichtet sich, bestimmte Ziele zu verfolgen, schlägt dies nicht automatisch auf das Arbeitsverhältnis zwischen der FCB AG und Herrn Boateng durch", so Lambertz.
Sportrechts-Experte: "Als Arbeitnehmer gibt man nicht sein Recht auf Privatsphäre auf"
Und auch die Gefahr einer fristlosen Kündigung im Falle einer künftigen Verurteilung wegen Körperverletzung sieht der Sportrechtler nicht. "Die Arbeitsverhältnisse im professionellen Fußball sind immer einem besonderen Blick der Öffentlichkeit ausgesetzt. Grundsätzlich sollte man sich die Frage stellen, wie man in anderen Arbeitsverhältnissen entscheiden würde.
Würde man fordern, dass etwa ein Busfahrer/eine Krankenschwester gekündigt wird, wenn er/sie ähnlichen Vorwürfen ausgesetzt würde? Eine fristlose Kündigung des Vertrages sehe ich nicht, da ja bereits bei Vertragsschluss die Möglichkeit im Raum steht, dass es zu einer Verurteilung kommt."
"Dazu kommt, dass eigentlich das, was der Arbeitnehmer im Privaten macht, den Arbeitgeber nichts angeht. Als Arbeitnehmer gibt man nicht sein Recht auf Privatsphäre auf. Das wäre nur dann anders, wenn das Verhalten im Privaten auf den Beruf Auswirkungen haben würde, etwa ein Berufskraftfahrer, der seinen Führerschein wegen einer Trunkenheitsfahrt außerhalb seiner Dienstzeit verloren hätte. Eine solche Verbindung zwischen Privatem und Beruflichen sehe ich aber im Falle Boateng derzeit nicht", so Lambertz, der den Unmut einiger Fans nachvollziehen kann, aber nicht aus juristischer Sicht.
"Einmal mehr zeigt sich für mich, dass für einige zwischen Recht und Gerechtigkeit, was ja eine subjektive Empfindung ist, ein großer Graben ist, der nur schwer überschritten werden kann."