FC Bayern mehr recht als schlecht: Kritik an Tuchels Zweckfußball
Istanbul - Da sage noch einer, Thomas Tuchel sei kein Genussmensch. Er sei ein Kostverächter, wird dem 50-Jährigen nachgesagt. Ein disziplinierter Zeitgenosse, der auch bei der Ernährung seine Prinzipien hat. In Istanbul schlich der Bayern-Trainer in der Nacht zum Mittwoch um das Buffet auf dem Bayern-Bankett im "Raffles"-Hotel, analysierte und scannte genau, was ihn dort erwarten könnte. Er ging von Angebot zu Angebot, passierte die gedämpfte Dorade und das gebackene Lachsfilet, um dann – Tusch für Tuchel! – am letzten Tisch bei den Nachspeisen zuzugreifen. Hach, was sind schon Vorurteile!
Seinen Job geht Tuchel streng analytisch an, lässt einen disziplinierten und ergebnismaximierten Fußball spielen. Der spielerische Vortrag seines Teams ist ihm immens wichtig, doch das Resultat heiligt am Ende die Mittel. Zweckfußball – so lange der Weg zum Ziel stimmt und eine permanente Optimierung zu erkennen ist.
Der FC Bayern war bei Galatasaray Istanbul mit einem Gegentor bestens bedient
Beim 3:1 am dritten Champions-League-Vorrundenspieltag hätten Tuchels Bayern drei bis fünf Gegentreffer bis zur Pause bekommen können. "Das Beste an unserem Spiel in der ersten Halbzeit war, dass es 1:1 stand", sagte Torhüter Sven Ulreich. In Tuchels Rhetorik heißt solch ein Auftritt der Seinen "kompliziert, wir waren alle nicht zufrieden. Man kann nicht immer alles zu 100 Prozent verteidigen."
Sehr milde, aber die zweite Hälfte sei "viel besser" gewesen, weil man "ruhiger gespielt habe", so Ulreich und "Gala dann nicht mehr so ins Pressing gekommen" ist. So blieb es beim gewitzten Panenka-Elfmetertor von Mauro Icardi zum zwischenzeitlichen 1:1. Der ins Leere hüpfende Ulreich sah schlecht aus .
"Das war frech. Ich habe noch überlegt, ob ich stehen bleiben soll. Aber ich habe gedacht: Dann heißt es wieder, warum springt er nicht?", erzählte der Torhüter, dem am Samstag (15.30 Uhr, Sky und im AZ-Liveticker) im Bundesliga-Heimspiel gegen Darmstadt 98 aufgrund des bevorstehenden Comebacks von Kapitän Manuel Neuer wieder die Bank droht.
Der FC Bayern spielt erfolgreich, aber attraktiv sieht anders aus
Dabei zählt der starke und loyale Stellvertreter zu den positiven Erscheinungen der Bayern dieser Tage. Trotz der Erfolgsserie von mittlerweile vier Siegen hintereinander und zwölf nicht verlorenen Partien nach dem 0:3 im Supercup Mitte August gegen Leipzig wurstelt man sich so durch, was Vegetarier Tuchel so gar nicht schmeckt. Aber gut, er schluckt es runter.
Die zunächst fahrige Vorstellung der Bayern in Istanbul missfiel TV-Experte Matthias Sammer. "Das würde mich nachdenklich machen", meinte der ehemalige Sportdirektor der Münchner bei Prime Video und erinnerte: "Das ist nicht das erste Mal. Wir spielen hier gegen Gut, aber nicht wirklich High-Level."
Es fehlt die Souveränität, die Stabilität. "Das Niveau auf allerhöchstem Level müssen sie nicht bringen möglicherweise. Aber so wird es schwierig", meinte Sammer mit Blick auf Gegner anderen Kalibers ab der K.o.-Runde der Königsklasse. "Da hast du andere, ausgebuffte Mannschaften, die dich ausspielen. Sie müssen sich steigern."
Immerhin: Der FC Bayern kann sich auf seine Einzelkönner verlassen
Aber wie? "Wir müssen den Zugriff finden gegen den Ball und in die Duelle, in die Zweikämpfe kommen. Bei Ballbesitz brauchen wir mehr Ruhe und Ballbesitz-Passagen", mahnte Sechser Joshua Kimmich, hob jedoch positiv heraus: "Wir hatten Probleme. Es ist aber gut, dass wir eine Reaktion gezeigt haben in der zweiten Halbzeit. Vor ein paar Wochen oder Monaten hätten wir das nicht geschafft, da sind wir auf jeden Fall einen Schritt weiter. Wir wissen: Selbst, wenn wir eine schwache erste Halbzeit spielen, können wir in der zweiten Halbzeit unsere Qualität auf den Platz bringen und ein anderes Gesicht zeigen."
Weil man die qualitativ top besetzte Offensive hat. Wenn Leroy Sané wie so oft zuletzt mal nicht Spieler des Spiels ist, richten es der plötzlich treffsichere Kingsley Coman, der abgezockte Torjäger Harry Kane und der unwiderstehliche Jamal Musiala.
Und Tuchel? Er versprach, auch für die nächsten Herausforderungen "eine Lösung zu finden". Ganz der Pragmatiker. So wie er auch mal Spaghetti Bolognese verschlingt. Wenn nichts anderes da ist.