Der "Bomber" wird 70: Gerd Müllers trauriger Ehrentag
München - Erst Franz Beckenbauer, dann Karl-Heinz Rummenigge und nun Gerd Müller. 70, 60, 70. Drei der ganz Großen der Geschichte des FC Bayern erleben in diesem Herbst einen runden Geburtstag – macht zusammen 200 Jahre Fußballgeschichte.
Gerd Müller wird an diesem Dienstag 70 Jahre alt. Ein trauriger Festtag, vor allem für Angehörige und Freunde. Denn Müller, der größte Torjäger aller Zeiten, ist sich nicht in jedem Augenblick wirklich bewusst, dass der 3. November sein großer Tag ist. In schlechten Momenten weiß er nicht mal, dass er einst der Bomber der Nation war.
Für die Bayern erzielte der gebürtige Nördlinger zwischen 1964 und 1979 in 585 Spielen 533 Treffer. Für die Nationalmannschaft 68 Tore in 62 Spielen. Nun rinnt sein Leben Korn für Korn durch eine Sanduhr, in seinem Kopf herrscht zunehmende Dunkelheit. Müller leidet an einer Alzheimer-Erkrankung, muss seit Dezember letzten Jahres in einem Pflegeheim rund um die Uhr betreut werden. Seine Frau Uschi ist jeden Tag mehrere Stunden bei ihm, opfert sich für ihn auf. Für sie stellt diese bedrückende Situation die größte Herausforderung dar. Seit 1964 kennen sich die beiden, seit August 1967 sind die Müllers verheiratet.
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Aktuell gibt es gute Tage, helle, schöne Momente. Doch meist belastet der Schleier, der sich auf die Erinnerung legt, Müller selbst und noch mehr die Angehörigen und Besucher. Gute Freunde, die er oft nur auf den zweiten Blick erkennt. Paul Breitner, Uli Hoeneß und Rummenigge, die einstigen Mitspieler, besuchten ihren Gerd in den letzten Wochen. Man ging im Park des Pflegeheims spazieren, unterhielt sich so gut es ging. Man lag sich in den Armen, so sah keiner die feuchten Augen des anderen. „Wir begleiten ihn auf diesem Weg“, erklärte der Vorstandsvorsitzende Rummenigge, „das sind wir ihm schuldig.“
Am 6. Oktober hatte der FC Bayern die Erkrankung öffentlich gemacht – im Einverständnis mit Müllers Ehefrau. Über zig Jahre hatte man an der Säbener Straße und in Müllers Wohnort München-Solln mit dem unter Journalisten offenen Geheimnis gelebt. Sämtliche Reporter hielten sich an die Vereinbarung, die Erkrankung nicht zu thematisieren. Die Bayern-Familie baute einen künstlichen Kokon um ihn auf. Ein Anker am Beginn schwerer Zeiten.
Noch 2014 kam er regelmäßig zum Trainingsgelände, gebracht von einem Chauffeur, obwohl er keine Tätigkeit mehr ausüben konnte. Er ging in die Sauna, ließ sich massieren, flachste mit den Jung-Profis, sagte manchmal: „Also ich bin fit, könnte morgen spielen.“ Heile Welt am Anfang einer unheilbaren Krankheit. „Das war sehr wichtig, weil es jedem Menschen mit einer beginnenden Alzheimerdemenz nur zu wünschen ist, dass er sich so lange wie möglich in seinem vertrauten Umfeld, in dem er sich wohlfühlt, aufhalten kann“, sagt Prof. Dr. Hans Förstl, Müllers behandelnder Arzt.
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1992 hatte Müller, kurz zuvor durch einen Entzug trockener Ex-Alkoholiker geworden, die A-Trainerlizenz erworben. Fortan arbeitete er bis Mitte 2014 als Co-Trainer unter Hermann Gerland oder Mehmet Scholl, gab den Nachwuchsstürmern der zweiten Mannschaft Tipps. Unter ihnen am Ende der 2000er Jahre sein Namensvetter, ein gewisser Thomas.
Dieser Müller, heute Torjäger der Guardiola-Bayern, freundete sich mit dem legendären Müller an. „Gerds Näschen, sein Torriecher, seine ganz besondere Spielweise und sein riesiger Torhunger waren einzigartig. Ich bin glücklich, dass ich so viel von ihm lernen durfte“, schreibt der 26-Jährige im Vorwort zur kürzlich erschienenen Biografie „Gerd Müller – Der Bomber der Nation“ (Riva-Verlag, 256 Seiten, 19,99 Euro). Müller II weiter: „Gerd hat mich immer unterstützt und bestärkt. Ein wahnsinnig herzlicher Mensch. Ich kann mich nicht erinnern, dass dem Bomber jemals ein böses Wort über die Lippen gekommen ist.“
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Rund 1,5 Millionen Demenzkranke gibt es allein in Deutschland, pro Tag kommen etwa 100 neue Fälle dazu. Zwei Drittel der Demenzkranken leiden an Alzheimer. Die ehemaligen Mitspieler sind ihrem Gerd unendlich dankbar. „Ohne seine Tore wären der FC Bayern und der deutsche Fußball nicht das, was sie heute sind“, sagt Rummenigge. Paul Breitner, mit dem Bomber 1972 Europameister und 1974 Weltmeister, bezeichnet Müller als „Lebensversicherung“ und als „das größte Genie, das ich im Fußball jemals erlebt habe. Er wäre heute Messi, Ronaldo und noch ein paar andere zusammen – und würde es niemals sein wollen.“
Des Müllers Bescheidenheit seine Bodenständigkeit, seine Freundlichkeit – das waren seine größten Trümpfe. Das bleibt für immer. Wie seine Tore. Unvergessen. Thomas Müller richtet am Ende des Vorworts einen Gruß an sein Idol: „Wenn wir gewinnen, dann immer auch für dich, Gerd!“