30 Medaillen: Eine Fehleinschätzung als letzte Warnung vor dem Absturz
Sotschi – Die Zahl 30 steht mittlerweile auf dem Index. Das verwundert nicht, denn die 30 ist eben eine Zahl, die das Scheitern dokumentiert. Sie markiert das Ziel, das die 153 deutschen Sportler bei den Winterspielen in Sotschi erreichen sollten – und das sie nun klar verfehlen werden. "Klar und deutlich: Die Zielstellung sind 30 Medaillen", bekräftigte Alfons Hörmann, der Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) noch in der Woche vor dem Beginn von Olympia am Schwarzen Meer.
Längst ist klar: Hörmann hat, wie auch DOSB-Generaldirektor Michael Vesper, die Lage des deutschen Wintersports falsch eingeschätzt. Das von Hörmann eingeforderte "Wiederholen der Ergebniskonstellation von Vancouver" war zu ambitioniert. Zehn goldene, dazu 13 silberne sowie sieben bronzene Medaillen gab es bei Olympia 2010 – das wäre nur zu wiederholen, wenn ab sofort alle anderen Nationen ihre Sportler aus Sotschi abziehen würden. Weil das nicht passieren wird, ignorieren Hörmann und Vesper die Zahl 30 mittlerweile.
Allein im Bob, im Langlauf, im Biathlon und im Eisschnelllauf gewannen deutsche Sportler 2010 in Vancouver 17 Medaillen. Ausbeute in Sotschi bis zum Donnerstag: zwei. Da liegt ein Teil des Problems. Die Bobfahrer haben es nicht hinbekommen, sich anständige Schlitten bauen zu lassen. Die Langläufer hatten bislang Pech, vergaben aber auch zum Teil fahrlässig ihre Medaillenchancen. Die Biathleten haben den Anschluss an die Weltspitze verloren. Claudia Pechstein hätte die Eisschnellläufer retten müssen. Die Frau wird bald 42.
Bei allem Gold: Die Einbrüche in einigen, vor nicht allzu langer Zeit scheinbar glänzend aufgestellten Wintersportsparten sind sehr dramatisch. Sie stehen zum Teil in einem grandiosen Widerspruch zu den bekannten Vorgaben des DOSB: Der hatte im vergangenen Sommer einen "Korridor" von 27 bis 42 Medaillen vorgegeben als Ertrag der 130 Millionen Euro, die er als Fördergelder an die Fachverbände der Winter- und Sommersportarten verteilt. Über die Verteilung wird nach Sotschi wohl zu reden sein.
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Die deutschen Skicrosser, Vertreter einer der "neuen" Sportarten, haben nach Olympia 2010 mehr Geld zugesprochen bekommen. Das Konzept wurde aber erst im Herbst 2012 genehmigt: viel zu spät. Und um das Geld behalten zu dürfen, "müssen wir liefern", sagt Heli Herdt, beim DSV Leiter der Sparte Ski-Freestyle. Seine Ausbeute bislang: null. Das ist bei den Eisschnellläufern nicht anders. "Wir müssen uns auf Kürzungen einstellen", sagt Günter Schumacher, Sportdirektor der Deutschen Eisschelllauf-Gemeinschaft (DESG).
Bemerkenswert auch: In Sotschi gibt es 98 Entscheidungen, zwölf mehr als in Vancouver, also mehr Möglichkeiten, auf die "30" zu kommen. In zwei dieser neuen Wettbewerbe (Skispringen Frauen, Team-Wettbewerb Rodeln) gab es sogar Gold. Schlimm aber sieht es in den sogenannten neuen Sportarten aus, die seit 1992 in das olympische Winterprogramm aufgenommen wurden. In Shorttrack, Snowboard und eben Ski-Freestyle hat die deutsche Mannschaft in den bisherigen 22 von insgesamt 28 Wettbewerben genau null von 66 Medaillen gewonnen.
Strukturprobleme werden offensichtlich. Immer weniger Sportarten leben von immer weniger Champions, die Rodler ausgenommen. Dahinter fehlt es in der Breite an Nachwuchs, der die Lücke schnell schließen kann. Die Biathleten haben das bemerkt durch den frühen Abschied von Magdalena Neuner, und die Alpinen werden es zu spüren gekommen, wenn Maria Höfl-Riesch aufhört. Die Snowboarder haben noch nicht mal eine eigene Halfpipe, um anständig trainieren zu können.
Am Samstag wird der DOSB in Sotschi eine Pressekonferenz geben und Bilanz ziehen. In das berechtigte Lob für Einzelne wird sich dann womöglich Schönfärberei für das große Ganze mischen. "Wir müssen auch sehen, dass wir in den Finalplatzierungen eine ganze Reihe von positiven Resultaten haben", sagte Vesper dieser Tage schon. DOSB-Vize Christa Thiel sekundierte: Auch die Plätze vier bis zehn seien "hervorragend" bei Olympia, "davon haben wir etliche erwirtschaftet".
Und die 30 Medaillen als Ausweis für ein funktionierendes deutsches Sportfördersystem? Keine Rede mehr davon. Ein kritischer Geist wie der ehemalige Langlauf-Bundestrainer Jochen Behle sagt daher: "In vier Jahren wird es noch krasser werden."