Zaubermittel "kognitive Reserve": Die beste Vorsorge gegen Demenz

Der Schutz vor geistiger Verwirrung im Alter ist einfacher, als die zahlreichen Flops mit Alzheimer-Arzneien es vermuten lassen. Es gibt Möglichkeiten, einer Demenz entgegenzuwirken - und das lässt sich trainieren
Erich Lederer |
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Wach bleiben, interessiert sein, munter und aktiv bleiben: Das alles wirkt gegen die schleichende Demenz.
IMAGO/ingimage Wach bleiben, interessiert sein, munter und aktiv bleiben: Das alles wirkt gegen die schleichende Demenz.

München - Wem graut nicht davor: Im Alter langsam, aber sicher das Gedächtnis zu verlieren und womöglich jahrelang dement in einem Pflegeheim unter vielen anderen Dementen zu verbringen. Nicht zuletzt deshalb fließen riesige Summen in die Erforschung der Alzheimer-Krankheit und der Entwicklung von Medikamenten, um sie aufzuhalten.

Die ersten Präparate sind inzwischen zugelassen. Sie müssen aber sehr früh, noch ganz am Anfang der Krankheit auf die gefährlichen Plaques im Gehirn losgehen, um die Ablagerungen zu bremsen. Für andere, nicht so häufige Formen der Demenz ist bisher kaum eine Therapie in Sicht.

Alzheimer - wirklich unausweichlich?

Als Alzheimer-Forscher vor etlichen Jahren in den Gehirnen Verstorbener entdeckten, dass diese Menschen zwar viele typische Alzheimer-Plaques besaßen, aber dennoch bis zu ihrem Tod geistig fit geblieben waren, war das für die Wissenschaft zunächst eine große Überraschung.

Aber warum sollte es bei Erkrankungen des Menschen mit einem allmählichen Zerfall des zentralen Nervensystems nicht auch Mechanismen zur Kompensation von geistigen Fähigkeiten geben, wie sie etwa bei der Rehabilitation nach einem Schlaganfall zum Einsatz kommen?

Demenz vorbeugen: Das bedeutet die "Kognitive Reserve"

Der Begriff "Kognitive Reserve" geht auf den amerikanischen Neurologen Yaakov Stern zurück, der bemerkte, dass Patienten mit höherer Bildung dem geistigen Verfall durch Alzheimer länger trotzen konnten. Wissenschaftler der renommierten amerikanischen Mayo-Klinik beschreiben die kognitive Reserve als "die Fähigkeit, trotz Schädigung zu funktionieren".

Erste Forschungsergebnisse, so das Team, scheinen die Möglichkeit zu eröffnen, die kognitive Reserve durch eine frühzeitige Therapie im Alter zu erhalten und ein Fortschreiten der Demenz zu verlangsamen. Vergleicht man das Gehirn mit einem leistungsfähigen Rechner, so funktioniert die Reserve mit zwei Systemen. Zum einen bestimmt die Gehirngröße, vergleichbar mit der Hardware, die Fähigkeit, auch Ausfälle zu kompensieren, und wird in Fachkreisen als Gehirnreserve bezeichnet. Die kognitive Reserve wäre dann die Software, die, professionell programmiert, Umgehungsstraßen und Lösungen findet, wenn der direkte Weg nicht mehr zum Ziel führt.

Durch regelmäßige Wartung und Updates lässt sich zwar an der Gehirnreserve wenig ändern, aber die kognitive Reserve wird dadurch immer leistungsfähiger und resistenter gegen auftretende Schäden.

Ein hohes Fitness-Level unseres Denkorgans auch in hohem Alter dürfte wohl auf die Kombination beider Systeme bei regelmäßiger Pflege zurückgehen.

Alzheimer vorbeugen? Darum ist das Gehirn anpassungsfähig

In der Pubertät scheint es so, als verändere sich die ganze Persönlichkeit eines Menschen und damit auch sein Gehirn. Auch später sind immer wieder größere Anpassungen an eine neue Lebenssituation gefragt: vom Single zum Ehepartner, zur Vater- oder Mutterrolle oder auch im Beruf vom Lehrling bis zum Chef. Im jugendlichen Alter, so viel ist klar, funktioniert das am leichtesten.

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Aber sogar im Seniorenalter ist unser Denkorgan noch gezwungen, immer wieder seine Verkehrswege zu verlegen, auszubauen oder kaum genutzte Straßen stillzulegen, also kaum Gebrauchtes zu vergessen. Notwendig wird diese Anpassungsfähigkeit, im Medizinjargon "Neuroplastizität" genannt, bei Katastrophen: etwa bei einem Schlaganfall oder einer Gehirnverletzung. Sogar im Alter kann das Gehirn an den Stellen mit besonders viel Betriebsamkeit noch neue Nervenzellen produzieren - eine Fähigkeit, die Wissenschaftler lange nicht für möglich hielten.

All das funktioniert aber nur mit Training. Doch bei Parkinson oder Alzheimer ist der Verlust von Zellen und Nervenbahnen ein schleichender Prozess: "Der Verfall verläuft so langsam, dass andere Hirnregionen die Verluste immer wieder ausgleichen und die Erkrankung lange nicht auffällt", beschreibt Christian Grefkes-Hermann von der Uniklinik Frankfurt die tückische Nervendegeneration. "Erst wenn die Anpassungsfähigkeit des Nervensystems nach Jahren oder Jahrzehnten ausgeschöpft ist, bemerken Patienten Symptome."

Berühmter Versuch mit Nonnen

Wie gut die kognitive Reserve ausgebildet ist, lässt sich durch Gehirnaufnahmen nicht wirklich messen. Auch ein Gehirn-Scan, der die typischen Alzheimer-Plaques aufdecken könnte, ist nur in wenigen Fällen sinnvoll. Wenn allerdings Tests eine für das Alter weit überdurchschnittliche Leistungsfähigkeit in verschiedenen Bereichen wie Reaktions- und Entscheidungsgeschwindigkeit, Kreativität oder das Erkennen logischer Zusammenhänge zeigen, dann spricht das für eine gute kognitive Reserve.

Berühmt wurde in diesem Zusammenhang eine Studie aus den 80er Jahren mit mehr als 600 katholischen Nonnen in den USA. Regelmäßige Untersuchungen dokumentierten die geistige Fitness der Ordensschwestern - über 17 Jahre hinweg. Unterschiedliche Lebensgewohnheiten, die das Altern des Gehirns beeinflussen können, schlossen die Forscher bei dieser Studiengruppe weitgehend aus. Nach ihrem Ableben untersuchten die Wissenschaftler auch deren Gehirne.

Berühmt wurde durch die Studie Schwester Bernadette, die mit 85 Jahren starb und deren Gehirn mit Plaques übersät war, die aber bis zu ihrem Tod keine Anzeichen einer Demenz zeigte.

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Nur bei etwa zehn Prozent der Untersuchten zeigte sich ein eindeutiger Zusammenhang zwischen den Plaques im Gehirn und den Symptomen einer Alzheimer-Demenz. Weitere Langzeitstudien bestätigten diese frühen Befunde. Ein gesunder Lebensstil mit vielen Herausforderungen für den Kopf verringert die Wahrscheinlichkeit für eine Demenz am Ende des Lebens um bis zu 50 Prozent - bis zu einem gewissen Grad unabhängig von den Anzeichen einer Alzheimer-Erkrankung im Gehirn.

Bildung und soziales Netzwerk helfen

Gibt es also eine konkrete Strategie gegen Demenz? Wer das Glück hatte, in jungen Jahren eine gute und vielseitige Bildung bekommen zu haben, hat schon einmal einen klaren Startvorteil. Diese Bildung kann aber auch in einer spannenden Berufskarriere mit viel Kreativität und ständigen Herausforderungen bestehen. Ab der Mitte des Lebens werden dann soziale Kontakte immer wichtiger. Wer sich Gesichter und Namen merken muss, wer sich für die Interessen seines Gegenübers interessiert, wer sowohl locker dahinplaudern als auch tiefgründige Gespräche führen kann, hält sein Gehirn fit.

Um solche Kontakte zu knüpfen und zu pflegen, ist gerade in der zweiten Lebenshälfte auch der Computer eher ein nützliches Hilfsmittel als Suchtfaktor.

Im Gleichgewicht damit trägt körperliche Bewegung dazu bei, dass nicht nur neue Nervenzellen und -bahnen die Um- und Ausbauprozesse unterstützen, sondern auch die Versorgung mit Sauerstoff und Nährstoffen klappt. Sport sorgt außerdem für einen gesunden Schlaf, der erwiesenermaßen demenzhemmend ist. In der Nacht werden aus Erlebnissen des Tages Erinnerungen, die unser Nervensystem für die Zukunft sauber abspeichert und damit auch Platz für neue Aufgaben ab dem Aufwachen schafft. In diesen Stunden ist auch die Müllabfuhr im Kopf aktiv, die uns klares Denken ermöglicht.

Alzheimer und Demenz vorbeugen: Wie Ernährung und Musik eine Rolle spielen

Weniger Müll - dafür sorgt auch eine gesunde Ernährung. Dass bewusste Essenswahl auch den geistigen Fähigkeiten nützt, zeigt eine englische Studie mit Teilnehmern des Jahrgangs 1946, die seit ihrer Kindheit regelmäßig an Untersuchungen zu Körper und Geist teilnahmen. Von den Teilnehmern, deren Essen zu einem großen Teil aus "Junk-Food" bestand, schafften es weniger als zehn Prozent in die Gruppe mit hohem Intellekt. Fast ein Viertel aus dieser Gruppe ist inzwischen dement, aber kein einziger aus der Gruppe, die sich bis jetzt bewusst ernährt hat und fit im Kopf ist.

Eine Studie, an der auch die Münchner Ludwig-Maximilians-Universität beteiligt war, hat gezeigt, dass auch jahrzehntelanges Musizieren ein wirksames Mittel gegen den geistigen Verfall ist und für das Schutzpolster der kognitiven Reserve sorgt. Und nicht nur das. Musiker besitzen auch mehr "graue Substanz", also mehr Nervenzellen in dem Bereich, der für die Verarbeitung von Sinneseindrücken zuständig ist.

Wer jetzt allerdings glaubt, mit dem täglichen Kreuzworträtsel wäre sein Trainingspensum fürs Gehirn erledigt, der irrt. Um neue Verbindungen zu knüpfen, braucht es ständig neuartige Aufgaben. Immer nach dem gleichen Schema zu denken, verstärkt zwar die bestehenden Nervenbahnen, verdichtet jedoch nicht das Netzwerk. Deshalb sind kreative und immer wieder neuartige Impulse gefragt.

Alzheimer und Demenz vorbeugen: "Vitamine" fürs Gehirn

Schaut man genauer in die Gehirne der Menschen, die dort zwar Zeichen von Alzheimer aufweisen, aber gleichzeitig völlig normal oder sogar überdurchschnittlich fit im Kopf waren, dann fällt auf, dass diese Menschen ein dichteres Netzwerk mit mehr Verbindungen und mehr Nervenleitungen in den nicht von der Krankheit angegriffenen Regionen besitzen.Ihre Dendriten, also die Leitungen zur Synapse, der Anschlussstelle  zur nächsten Nervenzelle, sind länger.

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Gibt es Faktoren, die den Ausbau und die Produktion von Dendriten und Synapsen beeinflussen? Es scheint so. Zumindest deuten Tierexperimente und erste Befunde am Menschen darauf hin. "Neuritin" wird von Neuronen produziert und ist besonders in Menschen mit überdurchschnittlichen Fähigkeiten im höheren Alter vermehrt zu finden. Forscher haben den Faktor schon mit einem "Vitamin für Nervenzellen" verglichen. Auch ein zweiter Faktor, Twinfilin-2, scheint die Länge der Auswüchse der Neuronen mitzubestimmen.

Zusätzlich zum Kopftraining, so der Traum einiger Wissenschaftler, könnte die Gabe dieser oder anderer Faktoren die kognitive Reserve stärken und damit eine Art Immunität gegen Alzheimer & Co. schaffen.

Demenz hinauszögern - lange genug

Dennoch scheint es so, als könne die kognitive Reserve eine Demenz im höheren Alter nicht komplett verhindern. Allerdings kann sie wohl den Ausbruch hinauszögern, oft über viele Jahre hinweg. Manchmal so lange, bis von der "natürlichen" Lebenszeit nicht mehr viel übrig bleibt.

Wer sich im Alter nicht auf die faule (Kopf-)Haut legt, kann nicht nur dem allmählichen Verlust des Verstandes entgegenwirken, sondern besitzt auch eine schnellere Auffassungsgabe und kann Informationen rascher verarbeiten. Auch die Fähigkeit, Probleme zu lösen und sich Details aus seiner Umwelt zu merken, bleibt auf diese Weise auch noch mit Ü80 erhalten. Vielleicht gibt es in Zukunft eine Impfung oder gar eine Anti-Alzheimer-Pille gegen die Plaques im Gehirn.

Aber im Moment scheint Prävention das bessere Mittel zu sein. Ein Mittel, das schon jetzt verfügbar ist. Und ganz sicher günstiger als teure Blockbuster-Medikamente.

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