Zum Tod von Helmut Kohl: Ruhe war die erste Studentenpflicht!
Die Atmosphäre, nicht das Wetter war hitzig am 1. Oktober 1982. So gab es am Münchner Ludwigsgymnasium nicht Hitzefrei, aber spontan „Polit-frei“ – gegen den Willen der konservativen, allenfalls schwach-liberalen Schulleitung. 10. Klasse, Griechischuntericht drohte nach der Pause.
Aber anstatt des roten Lehrbuchs hatte unser Lehrer einen großen Radiorecorder dabei. In den höheren Klassen war es nicht anders. Die berufenen sozialliberalen Lehrer gingen gegen die kulturministerielle Direktoratsmaxime „Pflicht vor Neigung“ mit ihren Klassen auf Sendung.
Kanzler der Einheit: Helmut Kohl ist totHildegard Hamm-Brücher weinte hörbar am Rednerpult des Bundestages – und auch meine sonst immer gefasste Mutter, als ich nach Hause kam. Aber es half nichts: Die Ära Schmidt war zu Ende, die Ära Kohl begann. Sechzehn Jahre später war endgültig klar, dass ich meine gesamte Jugend unter einem Kanzler Kohl zugebracht hatte. Und das, was lächerlich als „geistig-moralische“ Wende angekündigt wurde, war in meiner Erinnerung – trotz Wackersdorf, Startbahn West und Friedensbewegung – der Beginn der Entpolitisierung unserer Gesellschaft.
1998 war ich dann auf einer Staatsexamens-Party im Glockenbachviertel eingeladen. Der Juristenanteil war hoch. Die Frauen kostümiert und die Twenbubis im Anzug standen ein wenig steif zwischen Designermöbeln und Ikea-Regalen herum. Die amerikanische Partyregel, zur Konfliktvermeidung auf Gespräche über Einkommen, Religion und Politik zu verzichten, war hier jetzt merkwürdig modifiziert: Man sprach über Aktien-Portfolios am Neuen Markt, Steuerersparnis durch Kirchenaustritt. Wer über Politik reden wollte, war Exot: eine Konsensgesellschaft ohne Diskussionsbedarf. Dabei würde Kohl in wenigen Monaten seinen Schröder-Herbst erleben und genügend Stillstand hinterlassen haben.
Ich selbst war in der Zeit der Wiedervereinigung Vorsitzender der Liberalen Hochschulgruppe und wir träumten als ein einsamer Haufen von mehr Mitbestimmung an der Uni und luden Hildegard Hamm-Brücher zu einer Veranstaltung ein, zu der nicht einmal alle unsere gut 20 Gruppenmitglieder kamen.
Und bei den Uni-Wahlen lag die Wahlbeteiligung um die 15 Prozent und somit weit unterhalb des gesetzlichen Quorums für eine gewichtigere Studentenvertretung. Es war ein Zeitgeist entstanden, in dem „Streik“ subversiv und „Demonstrieren“ ewig gestrig, linkschaotisch klang. Ruhe war die erste Studentenpflicht.war eine Birne mit eckiger Brille an die Unterführungs-Betonwand gesprüht: „2. Dezember 1990: Die Birne ist reif!“
Geschichte muss ohne das Wörtchen „wenn“ gelesen werden. Aber wenn Lafontaine Kanzler geworden wäre, wonach es vor der Wiedervereinigung ausgesehen hatte, hätte das die Bundesrepublik politisch wiederbelebt.
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