Helmut Kohl ist tot: Einheitskanzler und Europas Ehrenbürger
Ludwigshafen/Berlin - Es war Gorbatschows Idee. Spontan lud der sowjetische Staats- und Parteichef seinen Gast am 15. Juli 1990 in seine Heimatstadt Stawropol im Kaukasus ein. "In der Bergluft sieht man vieles klarer", meinte er. Doch Helmut Kohl zögerte. Die Verhandlungen zwischen dem Bundeskanzler und dem Kremlchef waren ins Stocken geraten, Kohl drängte darauf, dass ein wiedervereinigtes Deutschland die volle außenpolitische Souveränität haben müsste.
Gorbatschow blockte. Deutschland als Ganzes könne zwar de jure Mitglied der Nato sein, de facto jedoch dürfe das Gebiet der DDR nicht in deren Wirkungsbereich eingegliedert werden, da sich dort noch sowjetische Truppen aufhielten. Erst nach Ablauf einer Übergangsperiode könne man mit den Verhandlungen über den Abzug der Roten Armee beginnen. Helmut Kohl erhob sich von seinem Stuhl.
Er werde nur in den Kaukasus reisen, "wenn am Ende unserer Gespräche die volle Souveränität des vereinten Deutschlands und dessen uneingeschränkte Nato-Mitgliedschaft stehen." Gorbatschow sagte nur: "Wir sollten fliegen.". "In diesem Augenblick", so erinnerte sich Kohl später, "wusste ich, dass wir es schaffen würden." So kam es auch.
Als großer Europäer in Erinnerung
Am Freitagmorgen ist Helmut Kohl im Alter von 87 Jahren in seinem Haus in Oggersheim gestorben. Seit einem Sturz und Schädel-Hirn-Trauma 2008 war Kohl schwer krank und saß im Rollstuhl. 2015 hatte sich sein Zustand verschlechtert. Als "Kanzler der Deutschen Einheit" hat er Geschichte geschrieben, als großer Europäer wird er in Erinnerung bleiben.
Im abgelegenen Kaukasus, weit weg von Moskau und dem Kreml-Apparat, kamen sich der konservative Bundeskanzler aus dem Westen und der kommunistische Generalsekretär der KPdSU so nahe, dass sie alle Hindernisse auf dem Weg zur Einheit Deutschlands aus dem Weg räumten. Bei einem Spaziergang am Fluss Selemtschuk sprachen sie "über Gott und die Welt", so Kohl.
In dieser entspannten und vertrauten Atmosphäre wurde möglich, was bis dahin undenkbar erschien. Bei den abschließenden Verhandlungen stimmte Gorbatschow allem zu: volle Souveränität Deutschlands, Nato-Mitgliedschaft, Abzug der sowjetischen Truppen innerhalb von drei bis vier Jahren. Auf dem Rückflug ließ der Bundeskanzler Sekt servieren.
Als Pfälzer verspottet, als Staatsmann geachtet
Nie war Helmut Kohl mutiger, tatkräftiger, entschlossener und weitsichtiger als in den 329 Tagen zwischen dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 und der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990. Innerhalb dieser kurzen Zeit reifte er vom oftmals belächelten und nicht ernst genommenen "Pfälzer", der als "Birne" verspottet wurde, zum international geachteten und gefeierten Staatsmann.
Wie kaum ein anderer erkannte der promovierte Historiker die einmalige Chance, die sich aus den geostrategischen Veränderungen seit dem Amtsantritt Gorbatschows in der Sowjetunion 1985 ergeben hatte und nutzte das geöffnete Fenster, um die Teilung Berlins, Deutschlands und Europas im Einklang mit allen Nachbarn und allen vier Siegermächten zu überwinden.
Die Zeit arbeitete für ihn
16 Jahre Bundeskanzler (von 1982 bis 1998), 25 Jahre CDU-Chef (von 1973 bis 1998), dazu noch Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz (1969 bis 1976) und CDU-Oppositionsführer im Bundestag (1976 bis 1982) – Helmut Kohl hat die Geschichte der CDU wie der Bundesrepublik Deutschland maßgeblich mitgestaltet und geprägt. 1973 löste er den bisherigen CDU-Chef Rainer Barzel ab und übernahm die Führung über die Oppositionspartei.
Die Bundestagswahl 1976 verlor er trotz des Rekordergebnisses von 48,6 Prozent gegen den SPD-Bundeskanzler Helmut Schmidt, 1980 musste er CSU-Chef Franz Josef Strauß den Vortritt lassen, der gleichfalls scheiterte. Doch die Zeit arbeitete für ihn.
Als im September 1982 in Bonn die Koalition aus SPD und FDP zerbrach, wurde er mit Unterstützung der Liberalen um Außenminister Hans-Dietrich Genscher in einem konstruktiven Misstrauensvotum zum sechsten Bundeskanzler der Bundesrepublik gewählt. Trotz erheblicher innerparteilicher wie öffentlicher Kritik sollte Kohl länger Regierungschef bleiben als seine Vorgänger.
Schattenseiten zum Ende
In seine Amtszeit fiel der europäische Einigungsprozess mit der Schaffung des Binnenmarktes wie der Einführung der Gemeinschaftswährung Euro. Für den überzeugten Europäer Kohl gehörten die deutsche Einigung und der europäische Integrationsprozess als die beiden Seiten der gleichen Medaille zusammen.
Am Ende: Schattenseiten. 1998 wählten ihn die Bundesbürger ab. Ein Jahr später stürzte die Parteispendenaffäre die CDU in die schwerste Krise ihrer Geschichte. Bis zuletzt weigerte sich Kohl die Namen derer zu nennen, die ihm rund 2,1 Millionen D-Mark in bar gegeben hatten.
Private Schicksalsschläge
Auch private Schicksalsschläge blieben dem "Ehrenbürger Europas" nicht erspart. Im Juli 2001 nahm sich seine Frau Hannelore, mit der er seit 1960 verheiratet war und zwei Söhne hatte, das Leben. Sie litt an einer Lichtallergie. Seine beiden Söhne brachen mit ihm. Er selbst saß zuletzt im Rollstuhl und konnte kaum mehr sprechen.
Glücklicherweise hatte Kohl zuvor sein neues privates Glück an der Seite der 30 Jahre jüngeren Maike Richter gefunden, die als Beamtin von 1994 bis 1998 im Kanzleramt gearbeitet hatte und die er im Mai 2008 in der Kapelle einer Reha-Klinik in Heidelberg heiratete.