Von der Leyen im AZ-Interview: "Ich kann den Frust der Menschen verstehen"
München - Die Europäische Union hat Fehler gemacht - bei der Bestellung und Beschaffung von Impfstoffen gegen das Coronavirus. Sie steht im Mittelpunkt der Kritik: die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen.
Im Gespräch mit der AZ spricht sie über Versäumnisse und die Lehren für die Zukunft. Und sie hält an einem wichtigen Bekenntnis fest: Der europäische Weg war die richtige Entscheidung.
AZ: Frau von der Leyen, die Impfungen sind schleppend und auch nicht so wie versprochen angelaufen. Können Sie verstehen, dass die Menschen verärgert sind?
URSULA VON DER LEYEN: Ja, ich kann die Frustration der Menschen und auch derjenigen, die in den Impfzentren arbeiten, gut nachvollziehen. Es sind zwei Dinge zusammengekommen. Wir haben schneller wirksame Impfstoffe gefunden, als es zu erwarten war. Normal dauert das fünf bis zehn Jahre. Das ist eine großartige Leistung der Wissenschaft. Aber wir wussten nicht, dass das Hochfahren der Massenproduktion und das Überwinden von Anfangsproblemen so schwierig sein würde. Ich verstehe die Ungeduld sehr gut, dass die Bürger jetzt, wo der Impfstoff da ist, auch so schnell wie möglich geimpft und endlich geschützt sein wollen.
Die CSU hat am Montag eine "Liste des Versagens" in Umlauf gebracht, in der gleich reihenweise die Versäumnisse der EU-Kommission angeprangert werden. Ärgert Sie das?
Kritik gehört dazu. Aber ich mag mir gar nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn heute nur zwei oder drei Länder Zugang zu Impfstoffen hätten und der Rest der Europäischen Union leer ausgegangen wäre. Das hätte unsere Gemeinschaft zerrissen. Hinzu kommt: Eine solche Entwicklung wäre Gift für den Binnenmarkt gewesen. Denn unsere Wirtschaft - auch die deutsche - ist miteinander verflochten und nur deshalb so stark, weil wir enge Beziehungen zu unseren Nachbarn haben. Insofern bleibt der europäische Weg trotz aller Hindernisse die richtige Entscheidung.
Von der Leyen: "Wir haben auf die richtigen Pferde gesetzt"
Die gemeinsame Einkaufsstrategie war richtig?
Ja, dank des europäischen Ansatzes haben wir heute ein breites Angebot an Impfstoffen, die wir auch gegen die Mutationen nutzen können. Wir haben auf sechs Hersteller gesetzt, drei davon sind inzwischen zugelassen und weltweit nachgefragt, zwei befinden sich kurz vor der Zulassung. Unsere Strategie ist aufgegangen. Wir haben auf die richtigen Pferde gesetzt. Bisher wurden 41 Millionen Dosen ausgeliefert und es kommen absehbar deutlich größere Mengen.
Der Impfstoff von Astrazeneca bleibt nicht nur in Deutschland liegen. Wurde das Vakzin im Streit mit dem Hersteller regelrecht kaputtgeredet?
Ich würde mich mit dem Vakzin von Astrazeneca genauso bedenkenlos impfen lassen wie mit den Produkten von Biontech/Pfizer oder Moderna. Als wir vor zehn Monaten anfingen, aus den Hunderten von Kandidaten die vielversprechenden herauszusuchen, gingen wir von einer Wirksamkeit zwischen 50 und 70 Prozent aus. Nun liegen alle darüber. Das Vakzin wurde sorgfältig geprüft, für sicher und wirksam befunden und zugelassen.
Aber Europa hinkt hinterher.
Wir holen auf. Großbritannien hat 17 Millionen erste Dosen verimpft. In der EU sind es 27 Millionen. In Italien mit einer ähnlichen Bevölkerungsgröße wie Großbritannien erhielten sogar schon doppelt so viele Bürger mit der zweiten Dosis den vollen Impfschutz als im Vereinigten Königreich.
Wird im zweiten Quartal wie versprochen alles besser?
Die Lage wird sich spürbar bessern. Wir merken, dass zum Beispiel Biontech mehr Dosen ausliefert als zunächst angenommen, weil die Produktion schneller wird. Außerdem kommen die vielen Millionen Dosen aus dem zweiten Vertrag mit Biontech hinzu. Und Johnson & Johnson steigt ein.
"Die neuen Varianten des Virus dürfen sich nicht ausbreiten"
In Europa gibt es wieder geschlossene Grenzen. Die Kommission hat Deutschland und einige andere Länder deswegen abgemahnt. Wurde nichts gelernt aus den Ereignissen vor einem Jahr?
Es ist richtig und grundsätzlich zulässig, dass Deutschland und andere gezielt dort eingreifen, wo das Virus gestoppt werden muss. Insbesondere die neuen Varianten dürfen sich nicht ausbreiten. Deshalb sind Reisebeschränkungen zielgenauer. Und die sollten verhältnismäßig sein und vorher angekündigt werden. Pauschale Grenzschließungen sind problematisch. Sie treffen jeden und legen im schlimmsten Fall die soziale Infrastruktur eines Nachbarlandes still, weil - wie in Luxemburg - die Mitarbeiter des Gesundheitssystems nicht mehr zur Arbeit fahren können. Unsere Lebensadern müssen wir aufrechterhalten. Deswegen ist es gut, dass Deutschland Ausnahmen eingeführt hat.