Interview

Vizepräsidentin Katarina Barley: "Die EU hat versagt"

Katarina Barley sieht als Vizepräsidentin im EU-Parlament die Wahlen in Ungarn mit großer Sorge - und übt harsche Kritik.
Katrin Pribyl |
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Katarina Barley
Katarina Barley © Katarina Barley

AZ-Interview mit Katarina Barley: Die SPD-Politikerin (53) ist eine von 14 Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments. Zuvor war sie deutsche Justizministerin.

AZ: Frau Barley, mit welchen Gefühlen blicken Sie auf die Wahl in Ungarn (bei Redaktionsschluss noch nicht beendet, d. Red.), wenn laut Umfragen wohl wieder Ministerpräsident Viktor Orbán als Sieger hervorgehen dürfte?
KATHARINA BARLEY: Ich bin sehr besorgt. Dadurch, dass Orbán alles nach seinen Plänen eingerichtet hat, müssten die Oppositionsparteien vier Prozent mehr Stimmen als er bekommen, um zu gewinnen. Danach sieht es nicht aus. Ich hoffe noch, dass Orbán seine Pro-Putin-Strategie zum Verhängnis wird. Das Problem ist, dass seine Propaganda ihre Spuren hinterlässt. Von den Fidesz-Wählern glaubt die Mehrheit, dass Putins Krieg in der Ukraine gerechtfertigt ist.

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán gibt in Budapest bei den Parlamentswahlen seine Stimme ab.
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán gibt in Budapest bei den Parlamentswahlen seine Stimme ab. © Chen Hao/imago

"Die letzte Wahl, bei der man Orbán noch mit demokratischen Mitteln abwählen kann"

Was würde ein erneuter Sieg von Orbán für die EU bedeuten?
Es ist ein Versagen - von der EU und insbesondere von der Kommission, weil sie auf den Abbau der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn nicht reagiert hat. Das ist die letzte Wahl, bei der man Orbán noch mit demokratischen Mitteln abwählen kann. Er hat schon jetzt den Staat so ausgestaltet, dass er selbst bei einer Niederlage alle Hebel der Macht in der Hand behält und eine neue Regierung schnell stürzen könnte. Er wird weiter dafür sorgen, dass das Geld in seine Taschen und die seiner Kumpels fließt.

Die Lage in Bulgarien oder Slowenien ist ebenfalls besorgniserregend. Wird Ungarn zur Blaupause für andere Regierungschefs in Europa?
Das Schlimme ist, dass wir diese Nachahmungseffekte schon sehen und die Kommission keine Anstalten macht, dem einen Riegel vorzuschieben. In Bulgarien wurde die Korruption nie richtig eingedämmt. Für mich ist aber Slowenien das Paradebeispiel. Ministerpräsident Jana, ein Freund Orbáns, übernimmt gezielt dessen Mechanismen, indem er als erstes die freie Presse angreift. Die Verantwortung liegt bei der EU-Kommission, die nicht willens ist, die zur Verfügung stehenden Instrumente anzuwenden.

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"Ich finde das absolut niederschmetternd"

Weiteres Sorgenkind ist Polen, wo die Unabhängigkeit der Justiz gefährdet ist. Trotzdem sieht es danach aus, als ob die Kommission demnächst die erste Tranche der bislang zurückgehaltenen Corona-Wiederaufbauhilfen auszahlen wird. Wie bewerten Sie das?
Mich macht das fassungslos. Es gibt keinen Anlass dazu. Natürlich müssen wir jetzt Polen unterstützen, das so viele Geflüchtete aus der Ukraine aufnimmt. Aber das kann man doch nicht aufrechnen mit dem Abbau der Unabhängigkeit der Justiz. Das hat nichts miteinander zu tun. Die EU sendet die Botschaft an die Autokraten: Wir verurteilen euer Verhalten, aber wenn ihr etwas uns Nützliches macht, kommt ihr damit durch. Ihnen wird attestiert, dass es Umstände gibt, unter denen man undemokratische Verhältnisse toleriert. Ich finde das absolut niederschmetternd. Für uns, die Politik machen, aber eben auch für die Bevölkerungen. Was ist das für eine EU, bei der unser aller Geld bei Regierungen landet, die die Demokratie abbauen?

Das EU-Parlament fordert weiter, ein Verfahren nach dem Rechtsstaatsmechanismus einzuleiten, sodass Polen und Ungarn weitere Mittel gekürzt oder gestrichen werden könnten. Angesichts von Millionen ukrainischen Flüchtlingen, die gerade in Polen Schutz finden - ist das die richtige Zeit für solch eine Eskalation?
Es ist massiv unfair, jetzt denjenigen den schwarzen Peter zuzuschieben, die den Rechtsstaat schützen wollen. Wir fordern das schon jahrelang, finanzielle Konsequenzen seit fast eineinhalb Jahren. Dass wir uns überhaupt in der aktuellen Situation befinden, ist die Schuld derer, die Maßnahmen verzögert haben. Außerdem müsste man es noch nicht einmal eskalieren lassen. Es reicht, wenn die Kommission erstmal einen förmlichen Brief schreibt und damit das Verfahren einleitet. Es wäre das Signal, dass die Sache nicht vergessen wird. Im Moment ist aber entscheidend, Polen nicht die Coronagelder auszuzahlen. Denn damit gibt die EU aktiv nach.

"Ich bin gespannt, was mit Ungarn passiert"

Würden Sie sich klarere Worte aus Berlin wünschen?
Ich habe Verständnis dafür, dass man öffentlich zurückhaltender ist aufgrund der aktuellen Lage und gleichzeitig in den vertraulichen Gesprächen die Dinge beim Namen nennt. Ich höre, dass viel Druck aus Frankreich kommt, das Geld an Polen zu überweisen, um während der EU-Ratspräsidentschaft ein Zeichen der Einigkeit zu setzen. Hier muss man gegenhalten. Aber gerade ist ohnehin die Kommission am Drücker.

Wohin steuert Ihrer Meinung nach die EU, wenn die Gräben immer tiefer werden?
Gegenüber Polen stehen jetzt alle Zeichen darauf, dass die EU den Druck lockern oder aufgeben wird. Ich bin gespannt, was mit Ungarn passiert. Ich könnte mir vorstellen, dass die Strategie der Kommission ist, bei Polen nachzugeben und bei Ungarn den Druck aufrechtzuhalten, um zu zeigen, dass sie es ernst meint mit der Rechtsstaatlichkeit. Nur wird man Orbán nicht auf Dauer am Katzentisch halten können. Wenn die Kommission in diesem Punkt nachgiebig ist, dann wird es zu einer Glaubwürdigkeitskrise bezüglich Demokratie und Rechtsstaatlichkeit kommen.

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4 Kommentare
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  • Der wahre tscharlie am 04.04.2022 16:23 Uhr / Bewertung:

    Natürlich hat Frau Barley Recht, wenn sie sagt, die EU hat versagt. Beonders im Fall Orban hat sie sich zu lange auf der Nase rumtanzen lassen.
    Ich kann nur auf die Doku, "Hallo Diktator" über Orban verweisen.
    Orban und seine Freunde kontrollieren die Medien, bzw. sind sie in deren Hand. Im Wahlkampf war er omnipräsent, die Opposition nicht vertreten. EU-Gelder fließen in die Taschen seiner Freunde, sogar seines Sohnes, als die Strassenbeleuchtungsgeschichte bekannt wurde.

    Und wie heute in einem kurzem Redeausschnitt von Orban zu hören war, lobt er sich,dass er sich gg. die Feinde aus der EU, den Linken Medien, der Soros-Gruppe durchgesetzt hat und man beachte, sogar Selenzkji hat er als seinen Gegner genannt.

    György Gattyán ist z.B. der reichste Ungar. Ihm gehört "livejasmin". Gleichzeitig verbietet Orban, dass in Büchern Schwule und Lesben vorkommen.

  • Heinrich H. am 04.04.2022 11:59 Uhr / Bewertung:

    Die EU versagt schon seit Jahren, das hat jetzt aber mit Ungarn überhaupt nichts zu tun, denn es handelt sich in Ungarn um Freie Wahlen und das Volk hat entschieden, wo liegt da das Problem...????

  • TimRe am 04.04.2022 15:22 Uhr / Bewertung:
    Antwort auf Kommentar von Heinrich H.

    Ungarn ist freiwillig in die EU eingetreten und kann freiwillig wieder austreten, wenn die eingegangen Verpflichtungen nicht genehm sind. Das Land hat die EU-Verträge ratifiziert und hat damit auch Verpflichtungen eingegangen. Dazu gehören, die Unabhängigkeit der Justiz, Presse- und Medienfreiheit , der Schutz von Minderheiten etc.....
    Orban kontrolliert nahezu die gesamte Medienlandschaft. Selbst die Plakatflächen unterliegen der Kontrolle seiner Handlanger. Von einer fairen Wahl kann man hier also nicht sprechen ! Menschenrechte werden mit Füßen getreten. Sei es bei LGBT-Themen und Obdachlosigkeit. Letztere wurde sogar quasi kriminalisiert und wird mittlerweile mit unentgeltlichen Arbeitsdiensten und Haft bestraft.
    Die EU ist nicht dafür da illiberale Bestrebungen zu finanzieren!
    Das Sie da kein Problem sehen spricht für sich und im Grunde genommen entlarvt Sie das als Feind unserer liberalen freiheitlich demokratischen Ordnung !

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