Vitali Klitschko: "Wir werden unser Land und unsere Träume verteidigen"
AZ-Interview mit Vitali Klitschko: Der ehemalige Box- Weltmeister (50) ist seit 2014 Bürgermeister der ukrainischen Hauptstadt Kiew.
AZ: Herr Klitschko, die russische Armee steht mit 150.000 Soldaten an der ukrainischen Grenze, die Gefahr einer Invasion ist greifbar. Sie haben immer gesagt: Die Augen sind der Spiegel der Seele. Als Bürgermeister von Kiew haben Sie Russlands Präsident Wladimir Putin öfters in diese Augen geblickt. Was haben Sie in seinen Augen, seiner Seele gesehen?
VITALI KLITSCHKO: Ich habe seine Entschlossenheit gesehen. Ich habe gesehen, dass die Entwicklungen der letzten Jahre in der Ukraine einfach nicht in seine Sicht der Welt passen, nicht mit seinen Werten zusammen passen. Er sieht es als Bedrohung für sich und seine Vorstellungen an, wenn die Ukraine in ihrer Entwicklung Erfolg hat, weil sie sonst Vorbild für andere Nationen sein könnte. Er möchte wieder ein russisches Imperium erschaffen, eine neue Sowjetunion. Er möchte, dass Russland wieder eine wichtige, zentrale Rolle in der Weltpolitik spielt. Es sind Großmacht-Fantasien. Dieser Weg ist aber ein Fehler, der viele Menschen das Leben kosten kann, es würde Blut fließen. Unsere Vision von der Ukraine als freies, freiheitliches, demokratisches, europäisches Land, ist mit dieser Sicht nicht wirklich vereinbar, sie ist eine Gefahr für ein autoritäres System.
Klitschko: "Wir wollen dorthin nicht zurück"
Dieses russische Imperium...
Da gehören wir nicht hin, das ist nichts für uns! Wir waren ein Teil der Sowjetunion. Wir wollen dorthin nicht zurück. Das ist unsere klare, eindeutige und unmissverständliche Botschaft. Wir wollen ein Teil der europäischen Familie sein. Das ist unsere Vision der Zukunft. Und wir werden für unsere Träume einstehen.
Ihr Bruder Wladimir hat sich zur Reservistenarmee der Ukraine gemeldet.
Ja. Diese Spannungen jetzt betreffen uns alle. Unser Land, aber eben auch meine Familie, mich selbst. Wir Ukrainer sind ein friedliches, ein friedliebendes Volk. Der Wunsch eines jeden Ukrainers ist, dass eine friedliche, eine diplomatische Lösung für diese Situation gefunden wird. Wir sind nicht aggressiv. Nie. Wir bedrohen niemand, wir werden niemanden angreifen. Wir alle hoffen, dass es nicht zum Äußersten kommt. Aber wenn es eine Invasion, einen Krieg geben sollte, werden wir uns verteidigen müssen. Dann werden wir uns, unser Land, unsere Städte, unsere Familien, unsere Frauen, unsere Kinder, unsere Träume und Überzeugungen verteidigen. Ich betone hier nochmal das Wort verteidigen.

Als Sie vor sieben Jahren Bürgermeister von Kiew wurden, hätten Sie sich wahrscheinlich auch nicht vorstellen können, dass die Ukraine 2022 am Rande eines Krieges stehen würde.
Nein, sicher nicht. Wir hatten andere Träume, aber die haben wir nicht aufgegeben. Ein Krieg wäre ein absoluter Albtraum für die Ukraine. Aber nicht nur für meine Heimat. Sondern für die ganze Region, für ganz Europa. Das Sicherheitskonstrukt der gesamten Welt wäre durch einen Krieg in der Ukraine bedroht. All das, was man über Jahrzehnte aufgebaut hat. Die Situation ist ernst. Es ist viele, viele Jahre her, dass Europa an der Grenze eines Krieges stand. Die Gefahr war seither wohl noch nie so groß.
Sie sprachen das russische Imperium an, von dem Putin Ihrer Meinung nach träumt.
Ja. Und die Frage, die sich jeder stellen muss, ist: Wo sind die Grenzen dieses neuen Imperiums? An der Ukraine? Den baltischen Staaten? In Polen? Würde man eine neue DDR wollen? Ich glaube, der Appetit würde immer wieder hochkommen. Es ist die Aufgabe aller Politiker in Europa und der Welt, Russland und seine Aggression zu stoppen. Sanktionen sind eines der allerwichtigsten, besten, effektivsten Mittel, um diesen aggressiven Nachbarn aufzuhalten.
Klitschko: "Sanktionen sind effektiv"
Man sollte also offen mit dem Ende von Nord Stream 2 drohen?
Mir ist klar, dass Sanktionen auch immer der Wirtschaft der Länder schaden, dass sie schmerzhaft für Deutschland wären. Aber Sanktionen sind effektiv. Die Russen bekommen sonst die finanziellen Mittel, die sie dann wieder ins Militär investieren können.
Deutschland hat sich bisher geweigert, Waffen an die Ukraine zu liefern. Eine Haltung, die Sie deutlich kritisiert haben.
Ich will mich in erster Linie dafür bedanken, dass Deutschland seit 2014 der größte Geldgeber in der Ukraine ist, dass es uns in unseren Reformen, im Wiederaufbau so unterstützt hat. Das war unglaublich wichtig und hilfreich. Aber die Hilfe, die wir jetzt brauchen, hat sich geändert. Nur mit Kopfkissen können wir uns nicht gegen eine der größten und stärksten Armeen der Welt verteidigen. Deswegen brauchen wir Verteidigungswaffen. Ich betone Verteidigungswaffen, keine Aggressionswaffen.
Die liefert Deutschland aber bisher nicht.
Ich möchte nicht kritisieren, sondern mich bedanken für die finanzielle Unterstützung. Ich will mich aber ganz besonders bei den Ländern bedanken, die uns auch Verteidigungswaffen geliefert haben. Wie die Vereinigten Staaten, wie Kanada, wie Großbritannien. Diese Art von Waffen ist ein Instrument, Russland in seiner Aggression zu bremsen. Ohne diese Waffen können wir uns nicht verteidigen. Und man darf nie vergessen: Es werden immer nur die Schwachen angegriffen, nicht die Starken. Wenn der Aggressor Stärke sieht, weiß er, dass jede Aktion auch für ihn sehr schmerzhaft wird. Wir müssen stark sein. Mit den Sanktionen. Und stark zusammen mit unseren Freunden und Unterstützern. Ich hoffe, dass die deutsche Regierung uns erhört - und Verteidigungswaffen liefern wird. Wir danken auf jeden Fall allen Ländern, die uns in unserer Souveränität unterstützen.
Klitschko: "Wir alle hoffen, dass all das nur Muskelspiele sind"
Russland sprach davon, dass bereits Truppen abgezogen wurden. US-Präsident Joe Biden hingegen erklärt, er halte die Gefahr einer Invasion in den nächsten Tagen für hoch.
Wir hören die Informationen aus Russland, aber unser Geheimdienst sagt, dass die Soldaten weiter vor der Grenze stehen. Wir alle hoffen, dass all das nur Muskelspiele sind. Aber wir wissen aus Erfahrung, zu was Russland fähig ist. Und ich bin sicher, ohne die Unterstützung unserer europäischen Freunde hätte die Invasion schon vor langer Zeit stattgefunden. Was wir jetzt brauchen, ist die Unterstützung unseres Landes, unserer Werte, unsere Träume, unserer Souveränität und territorialen Unverletzlichkeit.
Die Erfahrung, die Sie ansprachen, ist die Annexion der Krim im Jahr 2014.
Ja, ein großer Teil der Ukraine wurde von Separatisten annektiert. 13.000 ukrainische Soldaten sind in diesem Konflikt gestorben. Und ich denke, kein Mensch hat heute noch Zweifel daran, dass das, was 2014 in der Ukraine passiert ist, ohne die finanzielle Unterstützung, ohne Waffenlieferungen, ohne den Propaganda-Krieg, ohne die tägliche Gehirnwäsche passiert wäre. Wir sehen jetzt die gleichen Fingerabdrücke wie damals. Alle Konflikte der postsowjetischen Zeit in der Region wurden im gleichen Büro geschrieben - und das steht in Moskau.