Russland-Experte Bathon: "Missverständnisse sind die größte Gefahr"

Der Journalist und Autor Roland Bathon aus Schweinfurt analysiert seit rund 20 Jahren die politische Situation in Russland und Osteuropa.
AZ: Herr Bathon, Russland hat Zehntausende Soldaten und schweres Gerät an der Grenze zur Ukraine zusammengezogen. Wie groß ist die Gefahr eines Krieges?
ROLAND BATHON: Sie besteht durchaus. Allerdings glaube ich nicht an eine Invasion durch Russland. Die Truppenkonzentrationen an der ukrainischen Grenze dienen meiner Meinung nach dazu, politisch Druck zu machen und aus einer starken Position heraus Verhandlungen zu führen.
"Die Situation an der Grenze kann zu Missverständnissen führen"
Was macht die Situation dann so kritisch?
Auf beiden Seiten der Grenze laufen schwer bewaffnete Menschen herum. Es herrscht Misstrauen und es kann zu Missverständnissen kommen, die womöglich zu kriegerischen Auseinandersetzungen führen. Ich erinnere nur an den britischen Zerstörer, der letzten Juni im Schwarzen Meer in das Seegebiet der Krim gefahren ist. Das war für die Briten ein normaler Vorgang, weil die Krim für sie zur Ukraine gehört. Die Russen haben das ganz anders gesehen, schließlich beanspruchen sie die Halbinsel für sich. Und schon war man am Rande einer militärischen Auseinandersetzung. In solchen Sachen vor Ort liegt die größte Gefahr.
"Der aktuelle Dialog ist ein Austausch über Grundsatzpositionen"
Was genau wollen die Russen in den Verhandlungen eigentlich erreichen?
Sie wollen vom Westen als gleichberechtigte Macht mit eigenem Einflussbereich anerkannt werden. Deshalb soll die Nato - aus russischer Sicht ein feindliches Militärbündnis - garantieren, dass sie die Ukraine nicht aufnimmt. Die Mehrheit der Bevölkerung wäre mit einer neutralen Ukraine als eine Art Pufferstaat einverstanden. Sie will gar nicht, dass die Ukraine Teil Russlands wird. Parallel dazu verfolgt Moskau ein zweites Ziel: Man will, dass sich der Westen aus den "inneren Angelegenheiten", wie es die russische Seite immer so schön nennt, heraushält. Das sieht man unter anderem an den Aktionen gegen ausländische Medien in Russland.
Die Annexion der Krim hat Wladimir Putin 2014 hohe Popularitätswerte beschert. Seitdem ist die Zustimmung gesunken. Kann es nicht sein, dass er versucht, durch außenpolitisches Säbelrasseln wieder beliebter zu werden?
Wenn das sein Hintergedanke ist, funktioniert der Plan nicht sonderlich gut: Mit seiner Beliebtheit geht es nicht aufwärts.
"Der vereinbarte Waffenstillstand herrscht nur auf dem Papier"
Russen und Ukrainer werfen sich gegenseitig vor, gegen das Abkommen von Minsk zu verstoßen, mit dem 2015 Frieden in der Ostukraine geschlossen werden sollte - ein weiterer Grund für die aktuellen Spannungen. Was genau ist da los?
Die Minsker Vereinbarungen sind zur Lösung des Ukraine-Konflikts sehr wichtig, weil sie die einzigen Dokumente sind, die von allen Seiten unterschrieben wurden. Darüber hinaus gibt es ja zu allem unterschiedliche Ansichten. Allerdings gibt es über die Reihenfolge der Umsetzung der einzelnen Punkte wahnsinnigen Streit zwischen den prorussischen Rebellen und den Ukrainern. Deshalb herrscht der Waffenstillstand nur auf dem Papier und es wird immer wieder geschossen.
Um welche strittigen Punkte geht es dabei?
Eine Frage ist zum Beispiel: Entwaffnet man erst die Rebellen - oder gewährt man den Regionen Donezk und Luhansk erst Autonomie? Da ist die Reihenfolge durchaus entscheidend. Lassen sich die Rebellen erst entwaffnen, müssen sie ja darauf vertrauen, dass ihnen die Autonomie dann wirklich zugestanden wird. Damit tun sie sich schwer. Deshalb fordern sie ein umgekehrtes Vorgehen. Doch dann stellt sich die Frage: Wenn die Ukraine ihnen die Autonomie garantiert - geben sie dann tatsächlich ihre Waffen ab?
Die internationale Krisen-Diplomatie läuft auf Hochtouren. Wie bewerten Sie die Vermittlungsbemühungen?
Außenministerin Annalena Baerbock hat gesagt: "Wer redet, schießt nicht." Das ist ein bisschen krass - es steckt aber doch ein Körnchen Wahrheit darin. Experten kritisieren allerdings, dass der aktuelle Dialog überwiegend aus einem Austausch von Grundsatzpositionen besteht und keine Kompromisse geschlossen werden. Deshalb ist das Ergebnis bislang gleich null und die Spannungen gehen weiter.

"Viele Experten sehen Putin nur als Symbolfigur"
Welche Art von Kompromiss wäre denn denkbar?
Andrej Kortunow ist Generaldirektor des Russischen Rates für Auswärtige Beziehungen, dem führenden Think Tank des Außenministeriums in Moskau. Er fragt sich zum Beispiel, warum sein Land immer auf die Zusage des Westens beharrt, dass es keine Nato-Osterweiterung mehr geben wird. Diese Zusage wird man nie bekommen. Er schlägt deshalb als Kompromiss vor, ein befristetes Moratorium für weitere Aufnahmen zu fordern.
Ihr aktuelles Buch heißt "Putin ist nicht Russlands Zar". Das steht durchaus konträr zur herrschenden Meinung, dass in Russland nichts ohne sein Wissen geschieht. Wie kommen Sie darauf?
Zum einen aus eigener Erfahrung: Ich bin viel in Russland unterwegs, auch in der Provinz, oft Tausende Kilometer weit weg vom Kreml. Da sind ganz andere Leute die beherrschenden. Außerdem habe ich mit vielen russischen Experten gesprochen, die übereinstimmend sagen, Putin sei nur eine Art Symbolfigur, die über allem schwebt. Darunter gibt es eine Reihe wichtiger Einflussgruppen, die die wahre Macht im Staat haben. Dieses System hat Putin nicht geschaffen, er ist aus ihm hervorgegangen.
Sie bezeichnen die russische Führungsschicht als "Moloch aus rivalisierenden Einheiten". Wen meinen Sie damit?
Zu den wichtigsten Akteuren gehören natürlich der berühmte Geheimdienst FSB, die großen Staatskonzerne, die Ministerien und die Politiker der Regierungspartei "Geeintes Russland", die eine Zweidrittelmehrheit im Parlament hat. Diese und weitere Gruppen ringen um die Macht. Der Präsident ist dabei eine Art Schiedsrichter, der alles im Gleichgewicht halten muss, damit keine Seite zu mächtig und ihm dadurch gefährlich werden kann. Das ist eine seiner Funktionen.
"Außenpolitik wird überwiegend im Kreml gemacht"
Welche hat er noch?
Auch wenn seine Zustimmungswerte gesunken sind, steht immer noch die Mehrheit der Bevölkerung hinter ihm - aber nicht hinter seiner Regierungspartei. Insofern strahlt er nach innen. Seine dritte Funktion ist es, das Land nach außen zu repräsentieren und sich federführend um die Außenpolitik zu kümmern.

Ist die Außenpolitik nicht Sache von Sergej Lawrow? Welche Rolle spielt der?
Er ist ein langjähriger, sehr erfahrener Zuarbeiter in Sachen Außenpolitik. Sein Ministerium kann man als Dienstleistungsunternehmen für den Machtapparat begreifen, das Informationen beschafft und Konzepte schreibt. Gemacht wird die Außenpolitik aber überwiegend im Kreml - aber nicht nur von Putin persönlich, sondern von der gesamten Präsidialverwaltung. Lawrow ist dennoch ein wichtiger Mann, weil er bei der Bevölkerung beliebt ist, was man ja - wie schon gesagt - von den wenigsten Mitgliedern der Regierungspartei behaupten kann.
Sie schreiben, wäre Putin Bayer, wäre er ein Politiker der "gesteigerten CSU", das russische Äquivalent zu "Laptop und Lederhose". Wie bitte?
In seinem eigenen Land ist Putin kein Populist. Er ist erzkonservativ, aber nicht rechtsradikal. Man wird von ihm nie ein Wort gegen Minderheiten hören, er hat sich noch nie impfkritisch geäußert und zweifelt auch nicht am Klimawandel.
"Nawalny hat in der russischen Obrigkeit viele Feinde"
Trotzdem wird die AfD von der russischen Regierung hofiert.
Ja, aber nur aus der Haltung heraus: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Putin kommt es auf das Bewahren an, auf konservative Werte. Das hat mich schon immer stark an die CSU erinnert, vor allem an die CSU von früher, als sie noch mit der Sicherheit der absoluten Mehrheit in jede Wahl gehen konnte. Und dann hatte ich noch ein sehr interessantes Erlebnis bei einer Wahlkampfveranstaltung der Regierungspartei im Ural. Das war 1500 Kilometer hinter Moskau - und plötzlich bin ich mir von der Atmosphäre her wie auf einer CSU-Veranstaltung vorgekommen: vorne die Honoratioren, gut versorgt mit Bier, und hinten die Folklore-Gruppe - nur dass es in diesem Fall keine Blasmusik war.
Ist es wirklich denkbar, dass der sogenannte Tiergarten-Mord oder die Vergiftung von Alexej Nawalny ohne Putins Zustimmung geschehen sind?
Ja. Nawalny ist dafür das beste Beispiel. Er hatte in der russischen Obrigkeit wegen seiner Korruptionsermittlungen sehr viele Feinde. Natürlich sind die Enthüllungen über Putins Villa besonders bekannt - aber Nawalny hat auch gegen Gouverneure, Minister und viele andere ermittelt. Manchen hat das sehr geschadet. Insofern kann ich mir gut vorstellen, dass ein örtlicher Anführer jemanden aus Geheimdienstkreisen damit beauftragt hat, Nawalny um die Ecke zu bringen. Diese These ist in Russland sehr weit verbreitet. Würde der Apparat jedoch eingestehen, dass da jemand eigenmächtig gehandelt hat, spräche das für eine gewisse Führungsschwäche - ein Gesichtsverlust. Insofern werden wir wohl nie erfahren, was genau passiert ist.
"Das Konservative wird reaktionär, Stabilität zu Stagnation"
Was halten Sie persönlich von Putin?
Ich habe ein eher negatives Bild von ihm: Menschenrechte und Pressefreiheit geraten zunehmend unter Druck. Der Korridor der erlaubten Meinungen wird enger. Leute, die noch vor fünf Jahren im offiziellen Staatsfernsehen Interviews gegeben haben, sitzen heute im Gefängnis. Vielleicht war Putin am Anfang notwendig für Russland, um die große Macht der Oligarchen zu brechen. Aber wenn man als Konservativer das Bewahrende übertreibt und dann auch noch fortschrittsfeindlich wird, was er in Bezug auf das Internet immer mehr ist, wird das Konservative irgendwann reaktionär und Stabilität zu Stagnation. Genau das passiert.
Wie lange wird Putin noch herrschen - und wer kommt dann?
Beim Thema Übergang versagen selbst die besten Experten. Aber alle rechnen damit, dass Putin bis zum letzten Moment das Heft in der Hand behält
- und dann ganz überraschend übergibt. In die Position einer "lame duck", eines Präsidenten auf Abruf, wird er sich sicher nicht bringen.
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