Interview

Ukrainerin bangt um ihre Mutter: "Es ist immer noch sehr gefährlich"

Wie geht es einer Frau in Deutschland, die um ihre Mutter in der Ukraine bangt? Ein AZ-Gespräch über Trauer, Alltag und russische Propaganda.
Leonie Fuchs |
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Eine Frau kehrt die Trümmer auf, nachdem russische Soldaten ihr Wohngebäude beschossen haben.
Eine Frau kehrt die Trümmer auf, nachdem russische Soldaten ihr Wohngebäude beschossen haben. © picture alliance/dpa/ZUMA Press Wire

Gelbe Schmetterlinge zieren Valentyna Inshynas blau-grünen Schal. Auf ihrer Smartphone-Hülle ist die ukrainische Flagge abgebildet. Sie fühlt sich nicht gut wegen des Krieges, sagt die Biologie-Doktorandin der AZ. Inshyna floh bereits vor acht Jahren mit ihrem Mann aus der Ukraine nach Deutschland. Damals annektierte Russland die Krim und der Krieg in der Ostukraine begann. Ihre Mutter blieb in Charkiw - und möchte auch heute, trotz des erneuten russischen Angriffskrieges, ihre Heimat nicht verlassen.

Jeden Tag versucht Valentyna Inshyna über Skype Kontakt mit ihrer Mutter aufzunehmen. Jeden Tag hat sie Angst davor, keine Antwort zu erhalten.

AZ: Frau Inshyna, können Sie derzeit Ihre Mutter in Charkiw kontaktieren?
VALENTYNA INSHYNA: Ja, aber das ist erst seit etwa einem Monat möglich. Im April haben Raketen die anliegenden Gebäude getroffen. Nur das Haus meiner Familie steht noch. Die Häuser drumherum sind alle zerstört. Seitdem funktioniert das Internet nicht mehr gut. Die Leute vor Ort können sich nicht mehr informieren, wissen nicht, welches Gebiet besetzt wurde. Skype ermöglicht zum Glück kostenlose Anrufe aus der und in die Ukraine. So können wir über das Festnetz oder über Skype telefonieren. Ich schreibe ihr jeden Tag über Skype, schaue, ob meine Mama online ist, ob sie Internet hat.

Valentyna Inshyna
Valentyna Inshyna © privat

Wie alt ist sie?
62 Jahre alt.

Könnte Ihre Mutter fliehen?
Sie möchte nicht. Ich habe ihr mehrmals gesagt, dass sie hier in Deutschland bei mir wohnen kann. Aber sie will ihr Zuhause mit ihrer Katze nicht zurücklassen. In Charkiw lebten 1,5 Millionen Einwohner, die Hälfte davon ist geflohen oder tot. Arbeiten kann meine Mama als freiberufliche Künstlerin gerade nicht mehr. Sie ist alleine, mein Vater ist bereits vor Jahren verstorben. Ich will ihr einfach nur helfen.

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Rund um Charkiw drängen laut Berichten die ukrainischen Streitkräfte Wladimir Putins Armee immer weiter zurück. Wie ist die Lage vor Ort für die Bewohner?
Es ist immer noch sehr gefährlich. Um an Essen und Trinken zu gelangen, müssen die Bewohner sich in Schlangen an die Posten stellen, wo humanitäre Hilfsorganisationen die Güter austeilen. Essen gibt es dort dann nur, solange der Vorrat reicht, also für einige Stunden. Die Ausgabestellen wurden zum Beispiel bei der Post oder in Supermärkten eingerichtet. Russische Soldaten nutzen diese Situation, sie schießen gezielt mit Raketen auf die Menschenschlangen. Jedes Mal weiß ich nicht, ob meine Mama von dem Einkauf zurückkommt. Ich warte stundenlang, ohne zu wissen, ob ihr etwas zugestoßen ist.

Das ist schrecklich.
Alles ist zerstört. Viele Menschen haben ihre Arbeit verloren. In Kriegszonen findet kein Schulunterricht mehr statt. Öffentliche Verkehrsmittel fahren nicht mehr, auch die wurden zerstört.

"Wir hatten uns schon im Herbst innerlich auf den Krieg vorbereitet"

Viele Familien wurden gespalten. Auch, weil ukrainische Männer im Land bleiben und kämpfen mussten. Zwei Freundinnen von mir sind mit ihren Kindern nach Deutschland geflohen. Ihre Männer sind in der Ukraine geblieben. So ist das Gesetz.

Sie selbst haben beschlossen, zu helfen. Wie machen Sie das?
Ich habe am Hauptbahnhof geholfen, als Geflüchtete ankamen, und für sie übersetzt. Meine Freundinnen und ich arbeiten im Biotopia-Museum
- dort werden Workshops für ukrainische Kinder angeboten. Außerdem habe ich mich beim Schulamt beworben, um dabei zu helfen, ukrainischen Kindern Deutsch beizubringen.

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Wie war das für Sie, als im Februar die ersten Nachrichten von einem Angriffskrieg gegen die Ukraine zu lesen waren?
Das war keine Überraschung. Seit dem Herbst gab es "Übungen" russischer Soldaten an der ukrainischen Grenze. Ich habe diese Nachrichten von Anfang an verfolgt. Militärexperten warnten schon damals vor einer Eskalation. Wir hatten uns innerlich schon darauf vorbereitet, dass es zu einem Krieg kommen könnte. Auch im Land hatte man sich vorbereitet.

Wie genau?
Seit dem letzten Herbst wurde Zivilisten beigebracht, wie man schießt, sich verteidigt. Viele Menschen haben sich Waffen gekauft. Schrecklich war die Rede von Putin vom 21. Februar. Er hatte sich darin an die Bürger Russlands gewandt. Viele Ukrainer haben live verfolgt, wie er behauptet, die Ukraine gehöre historisch gesehen zu Russland. Alle haben gespürt, dass das jetzt eine Kriegserklärung ist.

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Wo waren Sie da gerade?
Mit meinem Mann zu Hause, es war abends. Ich habe zwei Nächte lang nicht geschlafen, habe ständig Twitter und Telegram gecheckt. Ich war schockiert. Dann kamen die ersten Nachrichten von Raketenangriffen. Es ist irreal. Jeden morgen bin ich aufgewacht und habe gehofft, dass das nicht wirklich passiert ist, dass alles nur ein Traum war.

Immer noch spricht Putin von einer "Spezialoperation". Am Montag, den 9. Mai, erst feierte er den "Tag des Sieges" über Nazi-Deutschland in Moskau. Wie bewerten Sie das?
In meiner Kindheit war das ein Feiertag. Wir haben Gedichte gelernt, die Gedenkstätte besucht und Blumen niedergelegt. Es gab Konzerte und Theaterbesuche. Es war ein fröhlicher Tag, ein Gedenktag. Putin hat ihn für seine Kriegspropaganda missbraucht.

"Verwandte sagten: ‚Wir befreien euch von den Nazis'"

Ist Putins Propaganda in der Großstadt Charkiw spürbar?
Ich spreche Russisch und Ukrainisch. Von vielen Menschen im östlichen Teil der Ukraine leben Familienangehörige in Russland. Es ist unglaublich traurig, viele Familien zerbrechen jetzt daran. Die Großeltern meines Mannes Viktor wohnen in Russland. Sie unterstützen diesen Krieg. Sie wissen, dass das Haus meiner Schwiegermutter in der Ukraine zerbombt wurde. Sie haben ihrer eigenen Tochter gesagt: "Keine Sorge, wir befreien euch von den Nazis." Die einen sitzen in der Ukraine in ihren Kellern und U-Bahnen und schützen sich vor den Bomben, die anderen sind in Russland abgeschirmt, glauben Putin und seiner Propaganda in den Medien.

Wieso, meinen Sie, ist das so?
In Deutschland gibt es den Grundsatz "Nie wieder" als Teil der Erinnerungskultur. In Russland lautet das Motto: "Wir können den Sieg über die Faschisten wiederholen". Da steht eine Ideologie dahinter. Putin verherrlicht den sowjetischen Sieg über das nationalsozialistische Deutschland im Zweiten Weltkrieg. Der Krieg wurde über Jahre vorbereitet, Menschen manipuliert.

Wie hat er das gemacht?
Dafür hat Putin viel Geld ausgegeben, auch in Deutschland - etwa durch das vom russischen Staat gegründete Fernsehprogramm Russia Today. In Russland wird die Propaganda bereits Kindern im Kindergartenalter so erzählt. Putin möchte sein altes "großartiges" Reich, die Sowjetunion, zurück. Dabei interessiert ihn nur das Land, nicht die Städte, nicht die Menschen. Es geht allein um das Territorium. Die Ukrainer möchten einfach nur Frieden. Wir sind ein friedliches Volk.


Wer helfen möchte, kann zum Beispiel an Aktion Deutschland Hilft e.V. spenden. IBAN: DE62 3702 0500 0000 1020 30, BIC: BFSWDE33XXX, "Ukraine"

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4 Kommentare
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  • hundundkatz am 15.05.2022 11:32 Uhr / Bewertung:

    Zum Glück fahren die FlixBusse wenigstens noch bis Kiew.

  • Der wahre tscharlie am 15.05.2022 21:58 Uhr / Bewertung:
    Antwort auf Kommentar von hundundkatz

    Dann gute Fahrt......und schick der AZ eine Ansichtskarte von Kiew. LOL

  • Der wahre tscharlie am 14.05.2022 16:27 Uhr / Bewertung:

    Dabei fällt mir grad ein, wie gehts eigentlich der Familie, der die AZ-Journalistin ( Nina Job?) geholfen hat?

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