SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil: "Die SPD ist ernsthaft im Rennen"
Lars Klingbeil spricht im AZ-Interview über die Bundestagswahl und die Hoffnungen der SPD sowie die Lage in Afghanistan. Der 43-jährige Niedersachse ist seit 2017 Generalsekretär der Bundes-SPD.
AZ: Willkommen in Bayern, Herr Klingbeil. Haben Sie unserem Ministerpräsidenten ein Geschenk mitgebracht? Schließlich hilft er der SPD tatkräftig im Wahlkampf, indem er den Unions-Kanzlerkandidaten demontiert.
LARS KLINGBEIL: Söder hat ja jetzt erklärt, Hauptgegner im Wahlkampf sei die SPD. Das ehrt mich. Bisher hatte man ja tatsächlich den Eindruck, dass sein Hauptgegner der gemeinsame Kanzlerkandidat Armin Laschet ist. Im Ernst: Union und Grüne haben über Wochen versucht, uns zu ignorieren - das ist vorbei. Die SPD ist ernsthaft im Rennen. Und das liegt auch daran, dass wir heute in der Sozialdemokratie eine Geschlossenheit haben, die es über viele Jahre nicht gab - und keinen Markus Söder, der in Talkshows gegen den eigenen Kanzlerkandidaten pöbelt.
Umfragen sehen die SPD nur noch knapp hinter der Union. Worauf führen Sie das zurück?
Ich denke, dass die Menschen nach dieser anstrengenden Phase der Pandemie erst einmal abschalten wollten, Urlaub machen. Jetzt, wo überall Plakate hängen, fangen sie an, sich mit der Bundestagswahl zu beschäftigen. Jetzt wird allen klar, dass Angela Merkel nach 16 Jahren aufhört. Die Frage "Wer von den drei Kandidaten soll es machen?" rückt in den Mittelpunkt - und in diesem Moment zählt, wer von ihnen der größte Profi ist: Olaf Scholz. Neben seiner Stärke hilft uns aber ehrlicherweise auch ein bisschen die Schwäche der anderen.
Lars Klingbeil: Wir führen wegen Grünen und Union einen Wahlkampf der Nebensächlichkeiten
Manche sprechen vom Einäugigen unter den Blinden.
Die Leute sehen doch, dass sie sich auf Olaf Scholz verlassen können: Er hat als Finanzminister geholfen, Unternehmen durch die Coronakrise zu bringen. Mit der Kurzarbeit, die er und Hubertus Heil maßgeblich auf den Weg gebracht haben, sind Millionen Jobs gesichert worden. Wir haben jetzt endlich die globale Mindeststeuer für Google, Apple, Amazon - auch das ist sein Verdienst. Und in den Hochwassergebieten hat er nicht nur Betroffenheit gezeigt, sondern den Soforthilfe-Fonds aufgesetzt. Er ist der einzige Kandidat, der sich nicht permanent für irgendetwas entschuldigen muss. Wobei es mich nervt, dass wir dank Grünen und Union bisher einen Wahlkampf der Nebensächlichkeiten führen.

Seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan ist die Außenpolitik in den Vordergrund getreten. Außenminister Heiko Maas, Ihrem Parteifreund, wird vorgeworfen, er habe zu zögerlich gehandelt.
Ich kenne viele Soldaten, die in Afghanistan waren und auch welche, die dort gefallen sind. Meine Heimatstadt ist Munster, Deutschlands größter Heeresstandort. Ich komme aus einer Soldatenfamilie, habe Afghanistan auch selbst mal besucht. Mit den Nachrichten von dort habe ich wirklich zu kämpfen. Jetzt geht es um schnelle Evakuierung. Daraus jetzt ein Wahlkampf-Geplänkel mit persönlichen Schuldzuweisungen zu machen, halte ich für unwürdig und schäbig.
Klingbeil zu Afghanistan: "Diejenigen aus dem Land zu holen, die uns dort vor Ort geholfen haben"
Trotzdem stellen sich Fragen.
Ja. Was machen unsere Nachrichtendienste dort? Wie kann es sein, dass sie ein völlig anderes Lagebild übermittelt haben? Warum hat die afghanische Armee sofort kapituliert? Warum hat die afghanische Regierung keine Vorkehrungen getroffen, sondern früh das Land verlassen?
Unter anderem der stellvertretende Botschafter in Kabul wirft dem Außenminister vor, mit der Evakuierung zu lange gewartet zu haben.
Die parlamentarische Aufarbeitung der Ereignisse läuft. Aber aktuell hat es oberste Priorität, diejenigen aus dem Land zu holen, die uns dort vor Ort geholfen haben. Und damit ist Heiko Maas als Leiter des Krisenstabes gerade 24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche beschäftigt. Hunderte deutsche Staatsbürger und afghanische Ortskräfte sind über die Luftbrücke bereits sicher nach Deutschland ausgeflogen worden.
Dass Teile der afghanischen Regierung und der Führung der Streitkräfte korrupt sind, war kein Geheimnis. Warum hat man sie trotzdem jahrzehntelang mit viel Geld und Know-how unterstützt?
Es gab durchaus positive Entwicklungen: demokratische Wahlen, Pressefreiheit, Stärkung der Frauenrechte, Bildungschancen. Andererseits haben wir schon unter den Amerikanern gesehen, dass die Taliban auf dem Vormarsch waren. Aber zur Wahrheit gehört doch auch: Wie wäre denn die Debatte gelaufen, wenn wir vor drei Monaten gesagt hätten, wir müssen die deutschen Truppenkontingente in Afghanistan erhöhen? Dafür hätte es nie eine Mehrheit gegeben.
Manche sehen die Ereignisse bereits als Wendepunkt, als Ende des westlichen Einflusses in der Region.
Afghanistan ist nach dem Irak der zweite westliche Militäreinsatz, der seine erklärten Ziele nicht wirklich erreicht hat. Die Verteidigungsministerin spricht zwar von militärischen Erfolgen. Und ja, es gibt Al-Qaida nicht mehr - immerhin einer der Hauptgründe dafür, dass man nach 9/11 dorthin gegangen ist. Aber vieles, was den Neokonservativen in den USA um George W. Bush damals vorschwebte, die Taliban zu zerschlagen und dann eine blühende Demokratie zu schaffen, ist doch gescheitert. Die SPD-Fraktion hat im Bundestag schon seit längerem darauf gedrungen, dass es eine sorgfältige und umfassende Evaluierung dieses Einsatzes geben muss, daraus müssen grundlegende Konsequenzen für unsere Sicherheitspolitik gezogen werden. Das sind wir den 59 Soldaten schuldig, die in Afghanistan umgekommen sind.
"Mit solchen Parolen Wahlkampf zu machen, ist nicht anständig"
Im Moment verhandelt der deutsche Botschafter mit den Taliban über die Ausreise der Ortskräfte. Wird es darüber hinaus auch diplomatische Beziehungen zu ihnen geben?
1.900 Ortskräfte sind bereits in Deutschland. Hunderte sind über die Luftbrücke ausgeflogen worden. Aber wir müssen noch mehr rausholen. Deshalb müssen wir mit den Taliban reden. Sie blockieren derzeit den Zugang zum Flughafen und sind verantwortlich, dass viele Ortskräfte nicht zu den Flugzeugen der Bundeswehr-Luftbrücke durchkommen. Ansonsten kann ich zu den Taliban nur sagen: Ich vertraue denen nicht.
Aus der Union hört man bereits die Sorge vor einer neuen Flüchtlingsbewegung in Richtung Europa.
Ich bin geschockt, wenn ich Menschen sehe, die sich in ihrer Not an Flugzeuge hängen - und gleichzeitig Armin Laschet sagen höre "2015 darf sich nicht wiederholen". Das ist im Moment doch gar nicht die Debatte. Aktuell geht es darum, denen zu helfen, deren Leben in Gefahr ist und die jetzt schnell raus müssen aus dem Land. Mit solchen Parolen Wahlkampf zu machen, finde ich nicht anständig.
"Meine Lieblingskonstellation heißt Alleinregierung. Aber ich bin auch Realist"
Zu Ihnen: Sie waren bei den Jusos, der Parlamentarischen Linken und haben Zivildienst geleistet. Heute gehören Sie dem Seeheimer Kreis an und sitzen im Verteidigungsausschuss. Ist das ein Gesinnungswechsel oder ein persönlicher politischer Alterungsprozess?
Eine Entwicklung. 2001 habe ich in New York gelebt und die Anschläge auf das World Trade Center hautnah mitbekommen. Das war ein Wendepunkt in meinem Denken über die Bundeswehr und das Militär. Solche Wendepunkte gab es einige in meinem Leben. Meine Perspektive ist heute sehr klar: Die SPD sollte sich nicht um sich selbst drehen, sondern immer in den Mittelpunkt stellen, was wichtig ist für die Menschen in unserem Land.
Welche Koalition würden Sie denen nach der Wahl denn am liebsten präsentieren?
Meine Lieblingskonstellation heißt Alleinregierung. Das fühlt sich gut an, wie ich aus Niedersachsen unter Gerhard Schröder weiß. Aber ich bin auch Realist.
Sind Alleinregierungen überhaupt noch zeitgemäß?
Nein. Aber das sind Koalitionsaussagen auch nicht mehr. Früher gab es drei, vier Parteien, da hat man sich vorher festgelegt. Heute ist das Parteienspektrum bunter und die Zeiten sind turbulent: Als Armin Laschet CDU-Vorsitzender wurde, lag die Union bei 39 Prozent - jetzt bei 23. Als Annalena Baerbock Kanzlerkandidatin wurde, waren die Grünen bei 28 Prozent - jetzt sind sie bei 17. Wir waren lange zwischen 13 und 14 Prozent festgenagelt - jetzt sind wir bei 21. Das zeigt doch: Es kann jederzeit viel passieren.
Das Steuerkonzept der SPD
Auf Deutschland kommen enorme Herausforderungen und Umbauten zu, sei es in der Renten-Politik oder bedingt durch den Klimawandel. Wie wollen Sie die finanzieren?
Das ZEW, eines der renommiertesten Wirtschaftsinstitute, hat bestätigt, dass wir als SPD das am besten durchgerechnete Steuerkonzept haben. Wir werden für 95 Prozent der Menschen, also für die kleinen und mittleren Einkommen, die Steuern senken. Für Reiche, also diejenigen, die als Single ein Jahreseinkommen von 250.000 Euro haben, wird es im Gegenzug etwas teurer. Außerdem wollen wir eine Vermögenssteuer von einem Prozent einführen, bei der aber die Grundlage von Betrieben verschont bleibt, damit keine Arbeitsplätze gefährdet werden. Das - plus die globale Mindeststeuer - führt dazu, dass wir auch Geld für Zukunftsinvestitionen in der Hand haben.
Wofür zum Beispiel?
Eine Kindergrundsicherung. Es kann doch nicht sein, dass in unserem Land immer noch 2,8 Millionen Kinder in Armut leben. Die wollen wir da rausholen. Auch, indem wir den ÖPNV und das Schul-Mittagessen kostenlos machen.
All das soll durch die Mehrbelastung von fünf Prozent der Steuerzahler bezahlt werden?
Auch durch die globale Mindeststeuer oder das Schließen von Steuerschlupflöchern. Gerade die großen amerikanischen Internetkonzerne sind ja in der Pandemie nicht ärmer geworden.
SPD will Mindestlohn auf 12 Euro anheben
Sie wollen auch das Ehegattensplitting abschaffen. Die Union nennt das einen "Angriff auf die breite Mitte der Gesellschaft".
Das sind platte Parolen. Das Ehegattensplitting befördert, dass Frauen - die weniger verdienen - zu Hause bleiben, weil das steuerlich attraktiver ist. Das ist nicht mehr zeitgemäß und wir werden es für neu geschlossene Ehen ändern und eine Wahlfreiheit einführen. Viele Frauen wollen raus aus der Teilzeitfalle, arbeiten, ihrer Karriere nachgehen.
Sie fordern einen Mindestlohn von 12 Euro. Das sind bei einer 38,5-Stunden-Woche 2002 Euro brutto. In München kann man davon nicht leben - und als Rentner schon gar nicht.
Wir reden von der absoluten Untergrenze, die aber eine sofortige Lohnverbesserung für zehn Millionen Menschen wäre und viele aus Armutsverhältnissen herausholen würde. Das entbindet nicht davon, dass wir auch mehr Tarifbindung und eine bessere Bezahlung im sozialen Bereich brauchen. Aber natürlich stimmt es: Ein Mindestlohn von 12 Euro wird nicht dazu führen, dass man sich automatisch in der Innenstadt von München eine Wohnung leisten kann. Deswegen brauchen wir auch eine andere Baupolitik.
Lars Klingbeil: "Mit der SPD wird es keine Impfpflicht geben"
Es wirkt ein bisschen zynisch, wenn die SPD in München plakatiert: "Jetzt faire Mieten wählen - Olaf Scholz packt das an". Wie will er das machen?
Er hat klar gemacht, dass er pro Jahr 400.000 neue Wohnungen bauen lassen wird, davon 100.000 im Sozialen Wohnungsbau. Außerdem wollen wir ein Mietmoratorium, das besagt, dass in angespannten Wohnlagen die Miete nur noch im Rahmen der Inflation erhöht werden darf. Mieten sind die soziale Frage dieser Zeit.
Eine andere Frage dieser Zeit: Mitte Oktober sollen Corona-Schnelltests nicht mehr gratis sein. Richtig - oder falsch?
Klar ist: Mit der SPD wird es keine Impfpflicht geben. Aber es ist nicht zu erklären, warum die Pflegekraft, die Erzieherin oder der Busfahrer als Steuerzahler Tests für diejenige finanzieren soll, die sich nicht impfen lassen wollen. Jeder muss seinen Teil zur Gemeinschaft beitragen: Die einen lassen sich impfen. Die anderen werden, wenn die Inzidenzen steigen, einen Test vorlegen müssen, wenn sie ins Restaurant oder auf eine Kulturveranstaltung wollen. Das Wichtigste ist doch, dass wir keinen Lockdown mehr kriegen.
Sie sind Musiker, spielen Gitarre. Welcher Song steht für Sie für diesen Wahlkampf?
"Alles was ich hab" von Fynn Kliemann, dem Heimwerker-König aus meiner Region. Der Song handelt davon, dass man mit großer Leidenschaft alles für die Sache gibt, die man gerade vorhat.