Schotten über Brexit: „Wir wollen in der EU bleiben“
München/London - Eine der bittersten Ironien der Entscheidung für den Austritt aus der Europäischen Union könnte sein, was stolze Brexit-Wähler sich gewiss nicht gewünscht haben: Dass aus dem anscheinend bald wieder unabhängigen Großbritannien ein Klein-England werden könnte.
Die zentrifugalen Fliehkräfte, die das EU-Referendum freigesetzt hat, befeuern jetzt in Schottland ein zweites Unabhängigkeitsreferendum und in Nordirland führen sie zumindest zum Nachdenken über ein Zusammengehen mit der Republik Irland.
Denn die Brexit-Entscheidung war in erster Linie eine Entscheidung von England, dem bevölkerungsreichsten Land des Vereinigten Königreichs. England hat knapp über 15 Millionen der insgesamt 17,4 Millionen Stimmen für den Austritt beigesteuert. In Schottland dagegen stimmten sämtliche 32 Regionen und insgesamt 62 Prozent der Bürger für den Verbleib, während es in Nordirland 55,8 Prozent waren, die von einem Abschied von Europa nichts wissen wollten.
74 Prozent Pro-EU in Edinburgh
Jetzt ist die Situation eingetreten, dass Schottland gegen seinen Willen aus der Gemeinschaft mit der Europäischen Union gezerrt wird. In Edinburgh, wo die Pro-EU-Stimme mit 74 Prozent am deutlichsten ausgefallen war, herrschte Entsetzen. „Das ist ein Desaster“, sagte Alice Cook, eine Lehrerin. „Ich bin am Boden zerstört. Uns selbst zu isolieren, ist lächerlich. Ich habe einen dänischen Freund, der hierher ziehen wollte. Ich weiß nicht, was das für ihn bedeutet.“
Auch Amelia Baptie, Mutter von Zwillingen, ist todunglücklich. „Ich weiß nicht, was mit England passiert ist. Die sind so weit nach rechts abgedriftet, und Schottland wird einfach mitgezogen. Meine Eltern leben in Frankreich und sorgen sich jetzt, ob sie da bleiben können.“
Die Ministerpräsidentin der schottischen Regionalregierung Nicola Sturgeon reagierte am Freitag auf das Referendumsergebnis. Sie unterstrich das deutliche schottische Votum: „Wir haben klar gesagt, dass wir nicht die EU verlassen wollen. Ich als Ministerpräsidentin werde alles tun, damit der Wählerwille respektiert wird.“ Das Brexit-Ergebnis, sagte sie, sei für Schottland „demokratisch unakzeptabel“.
Was kann sie tun? Sturgeon steuert ein zweites Referendum über die schottische Unabhängigkeit an, nachdem im September eine solche Volksabstimmung verloren gegangen war. Sie verwies darauf, dass im Wahlprogramm ihrer im Mai wieder ins Amt gewählten SNP stünde, dass das schottische Parlament ein erneutes Referendum ansetzen könnte, wenn es „bedeutende und wesentliche Änderungen“ gebe.
AZ-Kommentar zur Brexit-Entscheidung: Verzockt
Ministerpräsidentin: Neue Abstimmung offensichtlich nötig
Genau das sei mit der Brexit-Entscheidung eingetreten. „Es ist deshalb völlig offensichtlich“, sagte Sturgeon, „dass ein zweites Referendum auf dem Tisch ist.“ Aber man wolle nichts übereilen. Zwar sei ein erneutes Referendum „hoch wahrscheinlich“, doch wolle man erst andere Möglichkeiten ausloten: „Es ist wichtig, dass wir uns Zeit nehmen, um alle Schritte zu erwägen und Gespräche führen, nicht zuletzt, um die Reaktion der Europäischen Union auf die Stimme in Schottland einzuschätzen.“
Die britischen Austrittsverhandlungen werden erst unter einem neuen Premierminister beginnen, also nicht vor Ende des Sommers. Danach, so Sturgeon, laufe eine zweijährige Frist bis zum Austritt. Innerhalb dieser Zeit müsse ein mögliches schottisches Unabhängigkeitsreferendum erfolgen. Ihre Regierung würde sofort beginnen, die gesetzlichen Grundlagen zu schaffen.
Beobachter gehen davon aus, dass die SNP erst dann ein Referendum ansetzen wird, wenn man in der Bevölkerung eine nachhaltige Unterstützung für die Unabhängigkeit sieht. Die Marke von 60 Prozent Ja-Stimmen in Umfragen müsste zuvor erreicht werden.
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