Brexit: Verzockt
Englische Reste-Rampe – der AZ-Vizechefredakteur Thomas Müller über den EU-Austritt der Briten.
Eins vorweg: Die Briten haben Geschichte geschrieben. Und zwar dermaßen epochal, dass es fast an die Wiedervereinigung heranreicht – bloß halt andersrum. Das dadurch ausgelöste Beben ist gewaltig: 5 Billionen Dollar an Börsenwerten wurden am Freitag vernichtet. Respekt, muss man auch erst mal hinkriegen. Die hysterische Reaktion der Finanzmärkte zeigt aber bloß, dass sie der Brexit auf dem falschen Fuß erwischt hat – sie haben sich schlicht und einfach: verzockt.
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Verzockt hat sich auch Premier David Cameron, der die Volksabstimmung ohne Not anberaumt hat, bloß um seine innerparteilichen Widersacher Schach matt zu setzen. Jetzt ist er es, der gehen muss.
Aber alle Briten müssen jetzt gehen. Auch wenn es vor allem die Älteren und Alten waren, die fürs „out!“ gestimmt haben, aus Angst vor Fremdbestimmung in der EU und Überfremdung im eigenen Land. In dem Land wohlgemerkt, dass so gut wie keine Flüchtlinge aufgenommen hat. Der Big Bang aus London trägt schon bizarre Züge.
Erst recht, wenn man bedenkt, dass Schotten und Nordiren als bekennende EU-Anhänger im Referendum mehrheitlich unterlegen, jetzt ihrerseits ihren Austritt aus dem Vereinigten Königreich vorantreiben. Dass sie das dürfen und es ihnen am Ende gelingt, daran lassen zumindest die Brave Hearts wenig Zweifel; der Fall Nordirland freilich liegt da schon ein bisserl komplizierter. Anyway – Great Britain wird wohl endgültig zur englischen Reste-Rampe. Oh, Dear.
Der Brexit wird teuer für England und Wales
Tja, der englische Patient. Was tun mit ihm? Hart bestrafen? Nach dem Motto, wenn du uns schon verlässt, dann sollst du das auch büßen? Allein schon um anderen Austritts-Begehrlichkeiten in der EU zuvorzukommen? Klar ist: Extra-Würste werden für London ab sofort keine (mehr) gebrutzelt. Den freien Binnenmarkt ohne jegliche Gegenleistung wird es für die nicht geben – das zeigen die Beispiele Norwegen und Schweiz. Nein, der Brexit wird teuer für England und Wales.
Dass die EU den Briten in den kommenden beiden Jahren der Austrittsverhandlungen und den drauf folgenden Jahren der Assoziierungsverhandlungen dennoch die Hand reichen muss, steht außer Frage, wobei das Austarieren von Zuckerbrot und Peitsche nicht ganz einfach werden dürfte.
Es ist halt so: Die Briten brauchen Europa – in der Nato und im Europarat bleiben sie ja ohnehin. Aber auch die EU braucht die Briten. Selbst wenn die es heute noch gar nicht so wahrhaben wollen.
Auf die EU wartet eine Menge Arbeit
Und die verbleibenden 27 EU-Staaten? Wenn sich die erste Schock-Starre gelöst hat, wartet Schwerstarbeit auf sie. Klar ist: Ein „einfach weiter so“ (bloß halt mit einem weniger im Bund) kann und wird es nicht geben. Zumal ja weitere Zentrifugal-Kräfte innen und Krisen außerhalb die EU akut bedrohen.
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Jetzt könnte die Stunde der Europäer schlagen: Deutschland und Frankreich müssen endlich wieder eng zusammenrücken und den EU-Motor anwerfen. Die Ziele können nur lauten: Vertiefung der Gemeinschaft, Stärkung der Institutionen wie Europa-Parlament und EU-Kommission bei gleichzeitiger Konzentration auf Wesentliches. Das Wichtigste: die EU- Bürger mit auf diese europäische Reise zu nehmen und bei ihnen echte Leidenschaft zu entfachen. Am besten gelingt dies übrigens bei den Jungen. Und würde endlich der Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit aufgenommen, wäre das schon mal der perfekte Anfang.
Der Abgang der Briten, so bitter er auch sein mag, eines ist er sicherlich nicht: ein Weltuntergang. Well, was soll’s. Es kommt jetzt halt bloß drauf an, was man draus macht.