Russland-Experte: "Ich schließe aus, dass Russland gegen einen Nato-Staat vorgeht"
AZ-Interview mit Gerhard Mangott. Der 55-jährige Politikwissenschaftler ist Professor für internationale Beziehungen an der Universität Innsbruck. Sein Schwerpunkt liegt auf Osteuropa und Russland.
AZ: Herr Professor Mangott, das befürchtete Invasionsszenario in der Ukraine ist eingetreten. Wie weit wird Putin gehen?
GERHARD MANGOTT: Russland hat offensichtlich ein eindeutiges Ziel und das ist die Unterwerfung der Ukraine, die Beschränkung der außenpolitischen Handlungsfreiheit des Landes und seiner Souveränität. Putin hat klar vorgegeben, was er will: Die Ukraine soll einen neutralen Status akzeptieren, sie soll sich entwaffnen und die Zugehörigkeit der Krim zu Russland anerkennen. Auf ukrainischen Boden sollen keine Waffensysteme stationiert werden, die Russland gefährden können. Putin wird alles daran setzen, diese Ziele zu erreichen.

"Ob Russland wirklich eine Verhandlungslösung finden wollte ist umstritten"
Sie gehen also nicht davon aus, dass Putin die Ukraine in die russische Föderation einverleiben will?
Nein. Das ist nicht die Absicht der russischen Seite, sondern eine abhängige, in ihrer Souveränität beschränkte Ukraine. So wie auch die Souveränität von Belarus nicht mehr gegeben ist. Da war Putin mit seinem Ziel der Schaffung einer Einflusssphäre schon erfolgreich.
Hätte der Westen dieses Szenario verhindern können oder stand dieses Drehbuch schon lange fest?
Es ist umstritten, ob Russland tatsächlich eine Verhandlungslösung versucht hat und ernsthaft an eine Lösung auf dem Verhandlungsweg geglaubt hat. Man kann nicht von der Hand weisen, dass Russland völlig unerfüllbare Forderungen gestellt hat und wusste, dass eine Lösung auf dieser Basis nicht möglich sein würde. Das hatte den Zweck, nach Scheitern der Verhandlungen sagen zu können, wir haben ein Angebot an den Westen gemacht, aber der Westen hat nicht nachgegeben, so dass uns nur noch eine militärische Antwort bleibt. Das ist eine mögliche Interpretation. Sollte Russland aber tatsächlich eine Verhandlungslösung für möglich gehalten haben, hätte es von westlicher Seite einer größeren Bereitschaft und Kreativität dazu bedurft.
"Die russische Seite ist auf harte Sanktionen vorbereitet"
Ist das Kind in den Brunnen gefallen oder kann der Westen noch das Schlimmste verhindern - und was wäre das?
Das schlimmste Szenario ist eine zumindest zum großen Teil russisch besetzte Ukraine mit einer willfährigen Regierung, die russlandfreundliche Politik betreibt. Der Westen zeigt große Hilflosigkeit. Natürlich wird es jetzt harte Wirtschafts- und Finanzsanktionen geben, aber darauf ist die russische Seite vorbereitet. Sie nimmt diese Kosten in Kauf, weil zumindest die Führung überzeugt ist, dass die geopolitischen Ziele des Landes wichtiger sind als die Kosten für die russische Wirtschaft und ihre Modernisierung. Helfen könnte militärische Unterstützung der Ukraine durch die Nato-Staaten, aber das kommt nicht in Frage, weil es zu einem direkten Konflikt zwischen der Nato und Russland führen würde.
Ist das völlig undenkbar?
Für den Fall, dass jemand versuchen sollte, die russischen Streitkräfte aufzuhalten, hat Putin am Donnerstag schon verklausuliert mit dem Einsatz von Nuklearwaffen gedroht. Er hat es nicht explizit gesagt, aber seine Aussagen sind nur als Drohung mit einer nuklearen Eskalation zu verstehen. Das ist nicht überraschend. Daher wird der Westen der Ukraine durch eigene Truppen nicht im Kampf gegen die russische Armee helfen.
"Putin einen verwirrten Geist zuzuschreiben, halte ich für falsch"
Ist also die Angst der baltischen Staaten und anderer Ukraine- und Russland-Anrainer mit Nato- und EU-Mitgliedschaft unbegründet?
Man kann die Ängste und Sicherheitsbedenken der osteuropäischen Staaten verstehen, vor allem angesichts der historischen Erfahrungen mit Russland beziehungsweise der Sowjetunion. Aber ich schließe auch für die gegenwärtige russische Führung aus, dass sie daran denkt, militärisch gegen einen Nato-Staat vorzugehen.
Nun hat aber Putin in den letzten Wochen eine Reihe von TV-Auftritten hingelegt, die recht bizarr anmuteten und zum Beispiel dem niederländischen Regierungschef schon zu der Befürchtung Anlass gaben, der Kreml-Herrscher sei durchgedreht. Ist Putin größenwahnsinnig geworden?
Putins Strategie war immer, unberechenbar und nicht vorhersehbar zu sein, aber er ist nicht psychisch krank oder geistig verwirrt. Man kann sicherlich eine gewisse einseitige Informationslage des russischen Präsidenten annehmen, aber ihm den Geisteszustand eines Verwirrten zuzuschreiben, halte ich für falsch.
"Eine russische Boden-Invasion wird auf ukrainischen Widerstand stoßen"
Steht die russische Bevölkerung hinter dem Krieg?
Die Mehrheit der russischen Bevölkerung gibt dem Westen die Schuld an dieser Krise, aber ich bin mir sicher, dass gleichzeitig eine deutliche Mehrheit diesen Krieg nicht will. Das Verständnis für diesen Krieg wird noch geringer werden, wenn viele tote russische Soldaten in Särgen in das Heimatland zurückkehren.
Ist damit zu rechnen? Die russische Armee könnte recht schnell erfolgreich sein.
Eine wirklich groß angelegte Boden-Invasion wird auf den Widerstand der ukrainischen Streitkräfte stoßen. Dieser Widerstand wird nicht erfolgreich sein. Russland wird sich letztlich durchsetzen. Aber der Blutzoll, den Russland zu bezahlen hat, kann durch die ukrainische Seite weit nach oben getrieben werden. Das wird auf die russische Bevölkerung nicht ohne Wirkung bleiben, auch, wenn sie durch die Staatsmedien einseitig informiert wird.