Interview

Putin-Propaganda in Russland: "Die meisten sind Opfer medialer Gehirnwäsche"

Stephan Orth hat Russland als Couchsurfer bereist. Ein Freund kämpft gerade auf Demos, eine andere Bekannte ist pro Putin. Wie er sich das erklärt.
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Stephan Orth
Stephan Orth © Rikkart

München - AZ-Interview mit Stephan Orth: Der Journalist und Autor aus Hamburg hat im Jahr 2017 das Buch "Couchsurfing in Russland: Wie ich fast zum Putin-Versteher wurde" veröffentlicht. Den zweiten Teil des Titels hat er jetzt neu eingeordnet.

AZ: Herr Orth, 2017 haben Sie das Buch "Couchsurfing in Russland" veröffentlicht, haben dafür bei russischen Menschen daheim übernachtet und sie im privaten Umfeld kennengelernt. Zu wie vielen von ihnen haben Sie aktuell noch Kontakt?
STEPHAN ORTH: Zu drei oder vier hatte ich noch regelmäßig Kontakt. Aber nach dem Kriegsbeginn habe ich viele weitere Bekannte dort angeschrieben, weil ich das alles gar nicht fassen konnte. Ich wollte mit ihnen reden und wissen, wie es ihnen geht, und auch mit Informationen helfen, die man dort nicht so leicht bekommt.

"Ein befreundeter Journalist geht davon aus, dass er bald im Gefängnis landen wird"

Wie denken Ihre russischen Bekannten über den Krieg in der Ukraine?
Die Meinungen sind sehr verschieden. Einer arbeitet als Journalist und berichtet nun über die Proteste in Moskau. Er geht davon aus, dass er bald im Gefängnis landen wird, weil er sich sehr stark gegen den Krieg engagiert. Er veröffentlicht zum Beispiel Bilder von den Demonstrationen und begibt sich damit in Gefahr. Aber er hat keine Angst und sagt: Jede Waffe, die in der Ukraine abgefeuert wird, trifft auch ihn. Er sieht die Ukrainer als Brüder und den Krieg als größtes Unglück seiner Lebenszeit.

Welche Meinung wird noch vertreten?
Eine Bekannte von mir, die ich während meiner Reise auf der Krim getroffen habe, ist sehr Putin-begeistert. Sie lebt mittlerweile in Paris und ist wahnsinnig nationalistisch eingestellt und hat das Gefühl, dass immer die Russen an allem Schuld und immer die Bösen seien. Sie versucht auch, die Gräueltaten des Krieges herunterzuspielen. Diese Gespräche, diese Realitätsverweigerung haben mich wütend gemacht. Sie lebt in Paris und hat damit für mich keine Entschuldigung dafür, sich nicht unabhängig informieren zu können. Die Menschen in Russland sind dagegen sehr isoliert. Die meisten sind keine schlechten Menschen, sondern seit Jahrzehnten Opfer medialer Gehirnwäsche. Dem entkommt man nicht so einfach, wenn man dort lebt.

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Wie sieht das genau aus?
Was ich auf meiner Reise damals gemerkt habe, ist, dass die Propaganda im ländlichen Bereich besonders gut wirkt. Viele Menschen leben wie in einer anderen Realität. Sie glauben schon seit Jahren, dass der Dritte Weltkrieg kurz bevorsteht, dass die Nato Russland angreifen will, dass in Europa totales Chaos herrscht - zwischen Flüchtlingskrise und Gay-Pride-Demos.

Warum funktioniert das?
Ich erlebe auf meinen Reisen, auch etwa in China, wie geschlossen solche Systeme tatsächlich sind. Wie sich Patriotismus instrumentalisieren lässt, wenn ein äußeres Feindbild geschaffen wird. In Russland sagten mir viele: Sie wissen, dass ihre Medien Propaganda machen. Aber den westlichen Medien glauben sie erst recht kein Wort. Das ist fatal, denn in russischen Staatsmedien wird die Realität erheblich stärker verfälscht als anderswo.

"Man benötigt technische Tricks, um freies Internet zu bekommen"

Wie stehen gerade die Möglichkeiten, sich in Russland unabhängig zu informieren?
Die letzten einigermaßen unabhängigen Medien wurden vor kurzem verboten. Man benötigt technische Tricks, um freies Internet zu bekommen. Doch ich glaube, das Misstrauen gegenüber einheimischen Informationsquellen wächst. Die Russen spüren, dass diesmal einiges anders ist als bei vorherigen Konflikten mit dem Westen, dass die Sanktionen schärfer sind: Ikea, McDonald's, Coca Cola und weitere Unternehmen haben die Arbeit eingestellt. Das gibt schon zu denken.

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Welche Sanktion trifft sie am schwersten?
Ein sehr großes Problem ist, dass Computerprogramme nicht mehr funktionieren. Microsoft, Adobe Photoshop - wenn man damit beruflich arbeiten muss, hat man plötzlich ein ernsthaftes Problem. Das trifft leider auch teilweise die Falschen. Bei YouTube wurde die Möglichkeit, mit Videos Geld zu verdienen, abgeschafft. Das schränkt auch Menschen ein, die sich zuvor dort regimekritisch geäußert haben.

Welcher Anteil der Gesellschaft in Russland steht hinter Putin, welcher nicht?
Der Oppositionelle Alexej Nawalny hat mehrere Online-Umfragen in den vergangenen zwei Wochen machen lassen, laut denen sich die Meinung zum Krieg verändert. Anfangs waren noch viele überzeugt, dass die Ukraine an der Eskalation schuld war und Russland nicht der Aggressor sei. Über die Tage ändert sich diese Einschätzung der Umfrage zufolge. Dennoch: Erschreckend viele Russen unterstützen weiterhin ihre Regierung.

" Ich wollte kein Putin-Versteher im Sinne von Putin-Fan werden"

Ihr Buch trägt den Titel: "Couchsurfing in Russland: Wie ich fast zum Putin-Versteher wurde". Davon haben Sie sich jetzt in Sozialen Medien distanziert. Warum war Ihnen das wichtig?
Die Idee dahinter war damals, dass ich verstehen wollte: Was macht dieser Machthaber mit seinem Land? Wie funktioniert sein System? Was macht seine Popularität aus? Ich wollte kein Putin-Versteher im Sinne von Putin-Fan werden. Es war ein humoristischer und flapsiger Umgang mit dem Thema - doch aus heutiger Sicht kann man daran nicht mehr viel spaßig finden. Im Buch selber würde ich nichts korrigieren, ich stehe zu jedem Satz. Die Menschen kommen ziemlich positiv weg, die Regierung ziemlich negativ.

Wie weit könnte Putin noch gehen - was ist Ihre Einschätzung?
In den letzten 20 Jahren hat Putin nie einen klaren Schritt zurück gemacht. Die Frage ist, ob es noch einen gesichtswahrenden Ausweg gibt, mit dem er es zu Hause so verkaufen kann, als hätte die "spezielle Militäroperation" ihre Ziele erreicht. Er wurde in die Enge gedrängt, steht mit dem Rücken zur Wand. Offensichtlich hat er die Folgen seiner Invasion unterschätzt. Man muss auf Putins Sturz hoffen - oder Angst haben, wie weit die Lage noch eskalieren kann.


Stephan Orth unterstützt die Organisation Tarilka. Sie bringt Lebensmittel in besonders betroffene Städte in der Ukraine. Infos unter www.tarilka.org; weitere Infos unter www.stephan-orth.de und bei Instagram www.instagram.com

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2 Kommentare
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  • Haan am 12.03.2022 13:19 Uhr / Bewertung:

    Zu Merkels Zeiten wurde man zwar wegen kritischer Kommentare in den Medien nicht weggesperrt, aber gelöscht. Erwähnt man z.B. die Karlsruher Richter, die mal zum Abendessen im Kanzleramt waren, wie lange bleibt das denn stehen?

  • Der wahre tscharlie am 12.03.2022 15:02 Uhr / Bewertung:
    Antwort auf Kommentar von Haan

    Wenn du das Abendessen schon so plakativ erwähnst, dann solltest du auch erwähnen, worum es bei dem Essen ging und wie das Bundesverfassungsgericht zu dem AfD-Antrag entschieden hat.

    Aber das alles hat mit dem Interview nichts zu tun, denn es geht darin u.a. um die eindimensionale Medienpräsenz Putins, die natürlich su einer Art "Gehirnwäsche" führen kann, wenn keine anderen kritischen Medien mehr zugelassen sind.

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