"Ohrfeige für die Demokratie": Renommierter Politik-Experte warnt vor der AfD
München/Passau - Der Politikwissenschaftler Heinrich Oberreuter, Direktor des Instituts für Journalistenausbildung in Passau, blickt auf das neue Jahr 2024 und erklärt, warum es auch große Herausforderungen für die Demokratie mit sich bringen könnte.
AZ: Herr Professor Oberreuter, die Demokraten schauen mit großen Sorgen auf das neue Jahr. Man erwartet weitere Erfolge der AfD in Ostdeutschland. Ist die AfD wirklich die zentrale Herausforderung für die Demokratie in Deutschland?
HEINRICH OBERREUTER: Es ist vor allem für die Regierungsfähigkeit eine zentrale Herausforderung. Speziell in den Parlamenten der Bundesländer, in denen Wahlen stattfinden, wird es bei 30 Prozent AfD und zusätzlich mit der Wagenknecht-Partei Schwierigkeiten geben, stabile Koalitionen zu bilden. Die AfD hat zur Demokratie und zur modernen Politikentwicklung ein äußerst problematisches Verhältnis. International betrachtet ist die AfD ein sehr internes, wenn auch nicht ungefährliches Problem. Rundum in Europa und in der Welt ist die Demokratie herausgefordert. Auch die Herausforderungen für den wirtschaftlichen Wohlstand wirken sich auf die Demokratie aus. Es handelt sich also um ein unsere Grenzen weit überschreitendes Problem.
Der ehemalige Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle hat gesagt: "Es kann durchaus sein, dass sich unsere westliche Demokratie nur als kurze Phase in der Geschichte der Menschheit erweist wie die attische Demokratie. Und danach wieder in die dunkle Zeit des Totalitarismus zurückfällt". Trifft dieses tiefschwarze Bild zu?
Ich verstehe, dass man es schwarz sehen kann, glaube aber nicht daran, dass die Entwicklung konsequent in diese Richtung gehen wird. Vor 30 Jahren kam mit der weltpolitischen Wende die These auf, die Demokratie habe nun gesiegt und es gäbe dazu keine Alternative mehr. Das war ein Trugschluss. Wir sehen, dass die demokratischen Systeme in der Welt zurückgehen, dass autoritäre und diktatorische Formen an Macht gewinnen, zum Teil auch an Popularität. Weil sie den Menschen vorgaukeln, die einfacheren und verständlicheren Lösungen bieten zu können, was nicht der Fall ist.
Politikwissenschaftler Heinrich Oberreuter: Wahlsieg von Trump würde Demokratie belasten
Welche Regionen haben Sie dabei im Auge?
Wir müssen uns nur den globalen Süden, China und Indien, den Putin'schen Totalitarismus und die Entwicklung in unserem Vorbild der Nachkriegszeit, den Vereinigten Staaten, ansehen. Mit einem möglichen Wahlsieg von Trump würde sogar im Zentrum der westlichen Demokratie eine Festung zusammenbrechen. Die Konsequenzen daraus kann man sich kaum vorstellen. Wenn dann noch AfD-geleitete Aushöhlungsprozesse in Deutschland dazu kämen oder wenn wir uns in der EU an Elemente wie Orbán erinnern, dann ist in der Tat die Stabilität sehr brüchig geworden. Die Sicht von Voßkuhle ist verständlich, aber hoffentlich verwirklicht sie sich nicht.

Wäre die Wiederwahl von Trump der Anfang vom unaufhaltsamen Zusammenbruch der westlichen Demokratie?
Es ist schwierig, vorherzusagen, ob etwas nicht zu stoppen ist. Wenn die Vereinigten Staaten diktatorial regiert werden und dies von einem zum erheblichen Teil von Trump-Sympathisanten besetzten Supreme Court gestützt wird, fehlen die inneren Widerstände gegen eine autoritäre Entwicklung. Autoritär-politischer Stil und Inhalt haben großen Rückhalt in der amerikanischen Bevölkerung. Das alles stimmt äußerst bedenklich. Wenn man sich an Trumps aus seiner Präsidentschaft bekannte außenpolitische Purzelbäume erinnert, geht es um die Stabilität der Welt- und Friedensordnung insgesamt. Wie man sich dann als liberaler Westen gegen aggressive Ambitionen von Russland und China verteidigen will, ist ein Rätsel. Wir wissen, dass wir ohne die USA nicht verteidigungsfähig sind.
Experte: Kommunikation zwischen Politik und Bevölkerung nicht in Ordnung
Um nach Deutschland zurückzukommen. Der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil hat als Rezept gegen die AfD empfohlen, sich den "Alltagssorgen der Menschen" anzunehmen. Bricht bei Ihnen da auch das große Gähnen aus?
Man ist nicht zum Gähnen geneigt, sondern zu einer ironischen Verständnislosigkeit. Was ist denn die Aufgabe der Politik und von politischen Entscheidungsträgern und Parteiführern? Sich um die Interessen und die Wohlfahrt der Menschen zu kümmern. Ernsthafte demoskopische Studien und Untersuchungen zeigen, dass die große Mehrheit der Bevölkerung der Bundesrepublik davon ausgeht, dass die politischen und Medien-Eliten ein vom Volk abgehobenes und distanziertes Leben führen. Das ist eine Ohrfeige für die Demokratie. Wenn es zutrifft, wäre das eine Pflicht- und Rollenvergessenheit derer, die uns leiten und führen sollen. Dieser Hinweis bestätigt eigentlich Positionen wie die der AfD, die sie mit Angriffen auf das politische System garniert. Sie bestätigt auch Positionen des Freie-Wähler-Vorsitzenden Hubert Aiwanger, der eine kuschelige Nähe zu den Volksinteressen sucht, ohne das politische System herauszufordern. Die Resonanz beider Kräfte an den Wahlurnen zeigt, dass die Kommunikation zwischen Politik und Bevölkerung nicht in Ordnung ist.
Der CSU-Vorsitzende Markus Söder sieht offenbar in der Bekämpfung von zu großer politischer Correctness, wie es sich im Gendern ausdrückt, einen Weg, um konservative bis rechte Wähler an sich zu binden. Ist das ein Beitrag zur Stärkung der Demokratie?
Das ist ein Beispiel für das Auseinanderklaffen von Eliten und politischen Meinungsführern in Politik, Gesellschaft und Medien einerseits und der Bevölkerung andererseits. Die Eliten diskutieren Themen, welche die Bevölkerung nicht einmal am Rande interessieren. Für die normale Bevölkerung ist ihr soziales Wohlergehen und die Zukunft ihrer Kinder entscheidend. Das Geschwafel über das Gendern und alles, was sich mit Wokeness verbindet, geht an den Befindlichkeiten weitester Kreise der Bevölkerung absolut vorbei. Die große Relevanz, die man dem in der abgehobenen Diskussion zumisst, ist ein Zeichen dafür, dass sich die Spaltung zwischen Meinungs-, Politik- und Medienführern und normalen Menschen weiter vertieft.
Die Ampel-Koalition hat den Graben nicht verkleinert?
Die Ampel-Koalition hat den Graben vertieft. Jeden Tag weist sie nach, dass sie analyse- und handlungsunfähig ist. Sie hatte eine geniale Idee, nämlich interessante politische Zukunftsoptionen zusammenzuführen und zu versöhnen. Das hat sich aber als intellektuelle Überforderung herausgestellt. Vielleicht ist es auch nicht hinzukriegen. Jedes Interesse mit Finanzen zu bedienen, ist kein Konzept. Und wenn die Finanzen an ihre Grenzen kommen, gerät das Ganze zu einer politischen Pleite.
Würden Sie Neuwahlen in 2024 für demokratiefördernd halten? Auch wenn die AfD erneut stärker wird?
Die AfD ist ein Risiko, die Existenzgefährdung der FDP ein anderes. Die Verzwergung der SPD ist das Risiko Nummer drei und das Ende der grünen Ambitionen Nummer vier. Die Stimmung in der Bevölkerung richtet sich aber nicht auf Wohl und Wehe der einen oder anderen Partei, sondern geht eher in die Richtung: Wir halten das, was uns zugemutet wird, nicht mehr aus, und wir würden gerne über unsere Repräsentanz in Parlament und Regierung neu entscheiden. Das ist zumindest demokratietheoretisch das wichtigere Argument, aber die Praxis der Demokratie ist auch ein Argument. Das Problem der Stabilität von Regierungsbildung würde dann möglicherweise auch auf Bundesebene aufscheinen so wie wir das in Ostdeutschland auf Landesebene erwarten.
"Höcke-Flügel" ist Garantie für Machtausschluss der AfD
Wird denn die "Brandmauer" zwischen Union und AfD auch und gerade im Osten halten?
Ich bin mir eigentlich sicher, dass sie hält, wobei man fragen muss: Was heißt "Brandmauer"? Eine solche einzufordern, wenn es um die Einrichtung von Kindergartenplätzen und Radwege im kommunalen Bereich geht, ist natürlich Unsinn, weil eine solche Brandmauer auch die demokratischen Parteien in ihrer Handlungsfähigkeit einschränken würde. Aber eine Brandmauer die Regierungsbeteiligung der AfD betreffend wird mit Sicherheit halten, wenn die AfD sich inhaltlich nicht ändert. Die Dominanz des Höcke-Flügels ist die Garantie für einen Machtausschluss der AfD.
Ist das Internet ein Brandbeschleuniger in Richtung autoritärer und populistischer Gesellschaftsordnungen?
Das Internet hat die politische Kommunikation erheblich verändert, weil es eine hohe Aufmerksamkeit für jede Form der Spielregelverletzung, der Radikalität und der Beleidigung erzeugt. Die Radikalismen und Populismen hat es immer gegeben, aber sie werden jetzt deutlich sichtbar und bekommen eine gesellschaftliche Relevanz. Das hat für eine rationale und tolerante politische Kommunikation Konsequenzen.
Vielen Dank für das Gespräch.