Gericht in Luxemburg: EU-Recht im Ausnahmezustand

Durfte die Bundeskanzlerin 2015 Hunderttausende Flüchtlinge nach Deutschland einreisen lassen? Ja, urteilt der Europäische Gerichtshof in Luxemburg. Trotzdem wurden tausendfach Gesetze gebrochen.  
Natalie Kettinger |
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Geflüchtete an der österreichisch-bayerischen Grenze auf dem Weg zu einer Notunterkunft. "Wir schaffen das", sagte Angela Merkel 2015 auf dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise.
AZ-Montage/dpa Geflüchtete an der österreichisch-bayerischen Grenze auf dem Weg zu einer Notunterkunft. "Wir schaffen das", sagte Angela Merkel 2015 auf dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise.

Durfte die Bundeskanzlerin 2015 Hunderttausende Flüchtlinge nach Deutschland einreisen lassen? Ja, urteilt der Europäische Gerichtshof in Luxemburg. Trotzdem wurden tausendfach Gesetze gebrochen.

Sommer 2015: Allein im August erreichen mehr als 130 000 Menschen über das Mittelmeer Europa. Die meisten machen sich via Balkanroute auf den Weg gen Norden. Die EU-Länder Griechenland, Italien und Kroatien lassen die Flüchtlinge ziehen – bis schließlich Tausende tagelang am Keleti-Bahnhof in Budapest festsitzen. Die Gestrandeten flehen Deutschland um Hilfe an.

In der Nacht vom 4. auf den 5. September 2015 trifft Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nach einem Telefonat mit dem damaligen österreichischen Kanzler Werner Faymann (SPÖ) eine folgenreiche Entscheidung: Sie lässt die Menschen in Sonderzügen nach Deutschland reisen.

War das alles rechtens, legitimiert durch die absolute Ausnahmesituation? Nein – und ja, urteilte der Europäische Gerichtshof (EuGH) gestern.

Das EU-Asylrecht – im konkreten Fall die Dublin-III-Verordnung – besagt, dass derjenige Staat für die Bearbeitung eines Asylersuchens zuständig ist, in dem der Antragsteller erstmals europäischen Boden betreten hat (was vor allem Italien, Griechenland, Bulgarien und Kroatien betrifft).

Konkret ging es bei der Grundsatzentscheidung um eine afghanische Familie und einen Syrer, die über Kroatien in die EU eingereist waren, ihre Asylanträge danach aber in Österreich und Slowenien gestellt hatten. Beide Länder sahen laut Dublin-Regel Kroatien in der Pflicht, die Asylverfahren abzuwickeln.

Die Richter bestätigten diese Auffassung: Auch wenn ein Land aus humanitären Gründen die Ein- oder Durchreise erlaube, bleibe es trotzdem weiterhin zuständig. Das bedeutet, der Grenzübertritt Hunderttausender war illegal.

EuGH-Generalanwältin Eleanor Sharpston hatte das im Juni noch anders gesehen: Bei der größten Massenbewegung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg sei eine sture Anwendung der Dublin-Verordnung nicht infrage gekommen, führte sie in ihrem Schlussantrag aus.

Die EuGH-Richter waren anderer Meinung – was selten vorkommt.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat trotzdem kein EU-Recht gebrochen. Im Urteil hebt der Gerichtshof explizit hervor, "dass die Aufnahme dieser Drittstaatsangehörigen dadurch erleichtert werden kann, dass andere Mitgliedsstaaten, einseitig oder in abgestimmter Weise im Geist der Solidarität, von der 'Eintrittsklausel' Gebrauch machen."

Diese erlaubt es EU-Staaten, Asylanträge von Geflüchteten auch dann zu bearbeiten, wenn sie laut Dublin-III-Verordnung gar nicht zuständig wären. Nichts anderes hat die Bundesrepublik 2015 getan.

Wenige Monate später allerdings verstießen deutsche Behörden reihenweise in Dublin-Verfahren gegen EU-Gesetze. Das machten die Luxemburger Richter gestern in einem weiteren Grundsatzurteil klar.

Viele Ankömmlinge hatten in Deutschland zunächst nur einen formlosen Antrag auf internationalen Schutz gestellt, während die formalen Asylgesuche erst Monate später abgearbeitet wurden.

Der EuGH erklärte nun, dass solche formlosen Anträge für wichtige Fristen im EU-Asylrecht ausschlaggebend sein können. Es sei "nicht erforderlich, dass das zu diesem Zweck erstellte Schriftstück eine ganz bestimmte Form hat".

Geklagt hatte ein Eritreer, der im September 2015 über Italien nach Deutschland gelangt war und in München einen formlosen Schutzantrag gestellt hatte, für den er auch eine schriftliche Bestätigung bekam. Einen "richtigen" Asylantrag konnte er beim überlasteten Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) erst im August 2016 stellen. Die Behörde wollte ihn daraufhin nach Italien zurückschicken.

Zu spät – so die Auffassung der Richter. Deutschland hatte die nach EU-Regeln gültige Frist von drei Monaten für den Antrag an Italien verpasst. Ausschlaggebend sei der formlose Antrag bei der Einreise gewesen.

Lesen Sie auch: AZ-Kommentar - EuGH und EU-Asylrecht: Solidarität und Europa

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