Interview

Desolate Bundeswehr: "Hoffen wir, dass die Wirkung des Schocks anhält"

Der hochrangige Militär Klaus Wittmann spricht im AZ-Interview über Politik und Militär, den Preis der Freiheit und den verlorenen Kampf um die Wehrpflicht.
Martina Scheffler |
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Ein Kampfpanzer Leopard 2. Deutschland brauche eine Rüstungsindustrie für die Kernfähigkeiten, sagt Klaus Wittmann.
Ein Kampfpanzer Leopard 2. Deutschland brauche eine Rüstungsindustrie für die Kernfähigkeiten, sagt Klaus Wittmann. © Peter Steffen/dpa

AZ-Interview mit Klaus Wittmann: Dr. Klaus Wittmann, geboren 1946 in Lübeck, ist Brigadegeneral a.D.. arbeitete militärpolitisch im Bundesverteidigungsministerium und im Nato-Hauptquartier und lehrt Zeitgeschichte an der Universität Potsdam.

Klaus Wittmann
Klaus Wittmann © privat

AZ: Herr General, wie kam es dazu, dass die Bundeswehr heute - so auch jüngst der Alarmruf des Heeresinspekteurs General Mais - als kaum fähig zur Erfüllung ihrer Aufgaben gilt?
KLAUS WITTMANN: Nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation und der Wiedervereinigung Deutschlands wurde die Truppenkonzentration in Mitteleuropa abgebaut. Die Bundeswehr wurde - im Einklang mit dem 2+4-Vertrag - verkleinert, Landesverteidigung schien nicht mehr erforderlich. Deutschland war ja jetzt "nur von Freunden umgeben". Dass dies nicht für die Nato als Ganzes galt, wurde lange übersehen.

Hat man sich zu sehr auf andere verlassen?
Während des Kalten Krieges hatten wir die Solidarität unserer Alliierten in Anspruch genommen. Der Gedanke, dass diese Solidarität auch mal seitens Deutschlands gefragt sein könnte, wurde verdrängt. Überdies traten Auslandsaufträge in den Vordergrund und wurden "strukturbestimmend". Viele Fähigkeiten wie Heeresflugabwehr, Seeaufklärungsflugzeuge, Mittel etwa zum Panzertransport, Verfahren wie grenzüberschreitende Truppenbewegungen und Prioritäten wie der Zivilschutz wurden aufgegeben.

"Die Bundeswehr braucht eine 'Kaltstartfähigkeit'"

Welche Fehler wurden dabei gemacht?
Die Bundeswehr wurde mehrmals umstrukturiert und finanziell immer ärmlicher ausgestattet; vernachlässigt wurde die Erfahrung, dass auch das Verkleinern, Umstrukturieren und Modernisieren zunächst teuer ist, bevor kleinere Streitkräfte weniger Geld kosten. Die Abschaffung der Wehrpflicht, die Privatisierung auf vielen Gebieten wie der Instandsetzung kamen hinzu, Bevorratung wich dem "just in time"-Prinzip und der Bestand an Großwaffensystemen wie Panzern und Artillerie wurde auf ein Maß reduziert, von dem ich schon damals prophezeite, das würde man eines Tages bereuen. 2010 veröffentlichte ich einen kritischen Gastbeitrag im "Rheinischen Merkur" mit dem Titel "Sicherheitspolitik nach Kassenlage". Heute besteht die Bundeswehr großenteils aus hohlen Strukturen und hat viele Defizite in Gerät und Ausrüstung sowie persönlicher Ausstattung.

Was sind die wichtigsten Anforderungen, denen die Bundeswehr künftig gerecht werden muss?
Die Bundeswehr muss in erster Linie die Fähigkeiten und den "Mindset", so ein Tagesbefehl des Generalinspekteurs, für die Landes- und Bündnisverteidigung besitzen. Dazu benötigt sie, in der Formulierung von General Mais, eine "Kaltstartfähigkeit": Verteidigung oder Verstärkung an den östlichen Nato-Grenzen kann mit viel kürzerer Warnzeit erforderlich sein als die zeitlich voraussehbare und planbare Zusammenstellung und Verlegung von Truppenkontingenten für Auslandseinsätze. Das erfordert voll aufgefüllte Truppenteile, die sich für einen Einsatz nicht - wie derzeit die Panzergrenadierbrigade 37 als Teil der Nato-Eingreiftruppe - Gerät und Material bei anderen Truppenteilen zusammenleihen muss. Für glaubwürdige Abschreckung und Verteidigung ist auch etwas erforderlich, wovon die Öffentlichkeit vermutlich keine Ahnung hat: Munitionsvorräte, die bei der Bundeswehr so weit abgesunken zu sein scheinen, dass allein ihre Auffüllung einen Betrag von 20 Milliarden Euro erfordert.

"Drei Divisionen bis 2032"

Gibt es eine Art Entwicklungsplan?
Das erforderliche "Fähigkeitsprofil" der Bundeswehr liegt seit 2018 ausgearbeitet vor und etabliert die konkrete Planung der Bundeswehr in den darauffolgenden 15 Jahren: Es orientiert sich weniger an Teilstreitkräften als vielmehr an "Systemverbünden". Im Kern sollen bis 2023 eine vollausgestattete Heeresbrigade ohne Rückgriff auf Kapazitäten anderer Truppenteile, 2027 eine personell und materiell komplette Division und 2032 drei Divisionen präsent sein. Auch der Laie kann sich vorstellen, wie viele Panzer, Geschütze und anderes Gerät dafür beschafft werden müssen. Die Verwirklichung des Plans ist im Rückstand, und sollte es mit der neuen Leitung des Verteidigungsministeriums erst einmal eine erneute "Bestandsaufnahme" geben, kann es weiter dauern.

Die Diskussion um die Wiederbelebung der Wehrpflicht hat begonnen. Wäre das ein richtiger Schritt, und sollte sie dann auch für Männer und Frauen gelten?
Ich selbst war 2010 unter anderem mit großen Zeitungsartikeln einer der letzten Kämpfer für den Erhalt der Wehrpflicht - und fast der einzige, der auch nach dem Kalten Krieg die Wehrpflicht sicherheitspolitisch abzuleiten versuchte. Das hielt ich für entscheidender als die immer angeführten - auch wichtigen - Gesichtspunkte Dienst am Staat, Integration in die Gesellschaft und Personalrekrutierung. Manche der von mir vorhergesagten negativen Folgen sind eingetreten. Aber ich war auch immer der Meinung, "Aussetzung" der Wehrpflicht bedeutet Abschaffung. Deshalb halte ich die Wiedereinführung der Wehrpflicht, wie sie war, für unrealistisch.

Was spräche dagegen?
Alle Strukturen für Einberufung, Unterbringung, Ausbildung der Wehrpflichtigen sind abgebaut worden. Das wäre eine erneute umfangreiche und mehrjährige Umstrukturierung der Bundeswehr. Die jetzt wieder begonnene Debatte um eine allgemeine Dienstpflicht für junge Männer und Frauen, etwa bei Bundeswehr, THW, sozialen Diensten, auch zur Förderung "sozialer Resilienz", ist fruchtbar. Aber als Verpflichtung stößt das auf verfassungsmäßige und europarechtliche Grenzen. Kurzfristig müsste man die Freiwilligendienste ausweiten und so attraktiv machen, auch den Dienst in der Bundeswehr, dass sie Anklang finden.

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Bundeswehr erfuhr "lediglich freundliches Desinteresse"

Die Ausstattung der Bundeswehr scheint desolat zu sein, wenn man von fehlenden warmen Jacken und Unterwäsche hören muss - wen sehen Sie dafür in der Verantwortung? Ist nur die Politik schuld?
Wer ist schon "die Politik"? Schuldzuweisungen sind nicht sinnvoll. Aber die Verantwortung hat natürlich jeweils der Minister oder die Ministerin der Verteidigung. Besonders der vorige Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Hans-Peter Bartels, hat Jahr für Jahr in seinen Berichten beanstandet, dass die persönliche Ausrüstung der Soldaten, nicht zuletzt in Auslandseinsätzen, mangelhaft sei und dass vielfach Soldaten sich bestimmte Ausstattungsgegenstände selbst kauften. Auch der Bundeswehrverband hat immer wieder solche Defizite beklagt. Aber ein gesellschaftliches Klima, in dem die Bundeswehr lediglich "freundliches Desinteresse", wie Bundespräsident Horst Köhler sagte, erfährt, war der Bereitstellung von Finanzmitteln nicht förderlich. Im Übrigen haben die Mängel auch mit dem schwerfälligen Beschaffungswesen zu tun.

100 Milliarden Euro soll die Bundeswehr bekommen, auch für Militärgerät - wie schnell kann dies überhaupt beschafft werden? Wie läuft ein Kauf von Militärgerät ab, was gehört alles dazu?
Ja, in der denkwürdigen Bundestagssitzung zu Putins Krieg gegen die Ukraine - und gegen die europäische Sicherheitsordnung! - wurde am vergangenen Sonntag deutlich, dass man in Regierung, Parteien und Gesellschaft endlich den "Weckruf" gehört hat und dass Sicherheit ihren Preis hat. Der Verteidigungshaushalt soll endlich der eingegangenen Nato-Verpflichtung "zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts" entsprechen, und ein "Sondervermögen" von 100 Milliarden Euro soll sogar im Grundgesetz verankert werden - damit es nur für die Streitkräfte zur Verfügung steht, im Volumen nicht verändert wird und unabhängig von regierenden Koalitionen ist. Wichtige, immer wieder verzögerte Vorhaben wie etwa Nachfolger des Tornado-Flugzeugs, Transporthubschrauber, Wiederherstellung aufgegebener Fähigkeiten, sollen beschleunigt und viele der genannten Defizite behoben werden.

Es geht um die "Behebung gravierender Defizite"

Das alles ist dringend nötig?
Wohlgemerkt, es geht hier nicht um "Aufrüstung", sondern um die Behebung gravierender Defizite. Aber Ihre Frage legt den Finger in eine Wunde: das militärische Beschaffungswesen, das es nicht fertiggebracht hat, die seit 2014 - die Krim-Annexion und Krieg in der Ostukraine - bereits beträchtlich erhöhten Verteidigungsausgaben ausreichend in militärische Fähigkeiten umzusetzen. "Bang for the buck", wie die Amerikaner sagen - "Kampfkraft für das Geld".

Welche Probleme kommen hinzu?
Schwerfälligkeit von Vergaberecht, Ausschreibung, Prüfung, Vertragserstellung, Strukturen im Beschaffungsamt und Bürokratie sowie Verzögerungen und Fertigungsmängel - die Palette der strukturellen Probleme ist groß, und alle VerteidigungsministerInnen haben sich an der Strukturreform bisher die Zähne ausgebissen. Hinzu kommen Konkurrenz der Teilstreitkräfte und politische Einflüsse zugunsten regionaler Hersteller. Hätte die Bundeswehr das, was in den letzten Jahren für viele Milliarden bestellt wurde, zeit- und qualitätsgerecht erhalten, stünde sie viel besser da.

"Kooperation auf europäischer Ebene voranbringen"

Wie ist es um die deutsche Rüstungsindustrie bestellt? Ist sie tatsächlich marginalisiert worden?
Dazu will ich nur sagen: Die öffentliche Verteufelung von "Kriegswaffenproduktion" muss aufhören, Deutschland braucht eine Rüstungsindustrie für die sogenannten Kernfähigkeiten. Vor allem aber muss die Kooperation auf europäischer Ebene vorangebracht werden - der nicht so sehr Deutschland, sondern eher Frankreich mit seinen nationalen Industrieinteressen entgegensteht. Und aufhören muss die Geldverschwendung durch die Konkurrenz übermäßig vieler Flugzeug-, Schiffs- und Panzertypen in Europa.

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Gibt es noch andere Fragen, die im Zuge der neuen Sicherheitspolitik gestellt werden sollten?
Vieles von dem, was wir im Kalten Krieg hatten und konnten, wird im Zusammenhang mit Landes- und Bündnisverteidigung wieder gebraucht. Beispiele hatte ich im Zusammenhang mit Ihrer ersten Frage genannt. Dies steht natürlich unter dem Vorzeichen, dass Deutschland - hoffentlich - nicht wieder "Frontstaat" ist, sondern "rückwärtige Zone" und "logistische Drehscheibe" mit dem dafür in Ulm aufgestellten Nato-Kommando. Wichtig sind aber auch folgende Dinge: verbesserte Strategiefähigkeit von Regierung und politischer Klasse, Kompetenz der Abgeordneten zur Einlösung des Anspruchs "Parlamentsarmee" und der Verantwortung dafür. Zudem eine bessere Zusammenarbeit zwischen den für Sicherheit maßgeblichen Ressorts und Bundestagsausschüssen sowie ein ungeachtet des Primats der Politik stärker "partnerschaftlicher" Dialog zwischen Politik und Militär, in dem Defizite, wie jetzt durch den Heeresinspekteur, klar und ohne Beschönigung beim Namen genannt werden. Und für entscheidend halte ich Verständnis und Rückhalt für die Bundeswehr in der Gesellschaft.

Sehen Sie da ein Umdenken?
Hoffen wir, dass die Wirkung des derzeitigen Schocks anhält. Schon hört man Kritik von den Jusos und besorgte Stimmen, dass die Entscheidungen zugunsten des Verteidigungshaushalts auf Kosten sozialer Aufgaben gehen könnten. Sicherheit ist auch eine "soziale Aufgabe" - ein "öffentliches Gut", dessen zuverlässige Bereitstellung die Grundlage für alles andere ist. Der Krieg, den der besessene russische Diktator gegen die Ukraine führt, nur weil sie sich demokratisiert und nach Westen orientiert, sollte uns allen den Preis der Freiheit dauerhaft vor Augen führen!

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7 Kommentare
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  • Grüne mit Gendefekt am 04.03.2022 21:18 Uhr / Bewertung:

    Die Wehrmacht von 44 würde die heutige Bundeswehr vernichten. Zeit wird es, 80 Jahre nach Kriegsende und einer komplett geänderten politischen Europäischen Lage, die Streitkräfte Deutschlands wieder aufzubauen.

  • Bongo am 05.03.2022 07:51 Uhr / Bewertung:
    Antwort auf Kommentar von Grüne mit Gendefekt

    Was für ein unsinniger Vergleich! Die Wehrmacht hatte 44 immer noch über 9 Millionen Soldaten, die Bundeswehr derzeit gerademal ca. 180 TSD.

  • Kaiserin am 04.03.2022 08:33 Uhr / Bewertung:

    Ja nach jetzigem Stand steht die Bundeswehr nackt da. Ein Natogeneral a.D. hatte eine klare Antwort am Montag in der Sendung hart aber fair auf die Frage ob Deutschland sich verteidigen könnte wenn es angegriffen wird * NEIN * kann es nicht!
    16 Jahre haben ihre Spuren hinterlassen, schwere Spuren und mit Holzschwertern und Plastikschildern werden wir unser Land nicht verteidigen können. Leider Fakt!!!

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