Das Grubenunglück wird zum Problem für Erdogan

  In der Türkei wächst nach dem Drama von Soma die Wut auf Premier Erdogan: Er redet das Unglück klein, sein Berater teilt Tritte aus. Zehntausende protestieren
von  Vanessa Assmann

In der Türkei wächst nach dem Drama von Soma die Wut auf Recep Tayyip Erdogan: Er redet das Unglück klein, sein Berater teilt Tritte aus. Zehntausende protestieren

SOMA Der Mann mit Turnschuhen, Jeans und schwarzer Jacke krümmt sich im Griff der Polizisten, versucht, der Wut des Angreifers auszuweichen. Er ist chancenlos. Sein Gegner, in Anzug und Lederschuhen, holt aus und tritt zu. Der Mann am Boden ist ein Demonstrant, der nicht einverstanden ist mit dem Krisenmanagement der türkischen Regierung nach dem Grubenunglück mit hunderten Toten. Der andere Mann ist Yusef Yerkel, enger Berater des türkischen Premier Recep Tayyip Erdogan.

Das Foto vom Fußtritt verbreitete sich gestern in Windeseile in sozialen Netzwerken – als Symbol für den verstörenden Umgang der Regierung Erdogan mit dem Unglück in Soma. Denn für verbale Prügel hatte tags zuvor bereits Erdogan selbst gesorgt – und die Wut vieler Türken auf sich gezogen, nicht nur unter den Bergarbeitern. 24 Stunden nach der Explosion in der Grube und dem anschließenden verheerenden Feuer wies er jede Verantwortung zurück und sprach von einem „gewöhnlichen Arbeitsunfall“. „Unfälle in solchen Minen passieren eben“, sagte der AKP-Chef.„Wir dürfen nicht denken, dass nur bei uns so etwas passiert.“ Ähnlich hatte er bereits vor vier Jahren bei einem anderen Grubenunglück nut 30 Toten argumentiert – und einen Proteststurm entfacht.

Um seine Aussage diesmal zu festigen, zählte er eine Reihe schwerer Grubenunglücke aus dem 19. und 20. Jahrhundert auf. Sein Fazit: Die Grube in Soma sei eine der sichersten der Türkei.

Dabei stand Soma schon zu diesem Zeitpunkt für das schwerste Grubenunglück der türkischen Geschichte – und das schwerste weltweit seit fast 40 Jahren. Und mehr und mehr kam zur Trauer die Wut hinzu. Nicht nur in am Ort des Unglücks. Dort beschimpften Menschen Erdogan als „Mörder“, ein wütende Menge trat auf seine Limousine ein. Schließlich musste der Ministerpräsident unter Polizeischutz in einen Supermarkt flüchten.

Lesen Sie hier, wie der neue Chef der türkischen Gemeinde die Proteste gegen Erdogan bewertet

In anderen Landesteilen glichen sich derweil die Bilder: In Istanbul, Ankara und Izmir zogen Zehntausende Menschen durch die Straßen, um gegen die Regierung zu protestieren. Demonstranten forderten in Sprechchören den Rücktritt der Regierung. Die Polizei antwortete hier wie dort mit Wasserwerfern und Tränengas. Zu den Protesten und einem landesweiten Streik hatte mehrere Gewerkschaften aufgerufen, auch sie sehen die Regierung klar in der Verantwortung. „Diejenigen, die Privatisierungen vorantreiben und zur Kostenreduzierung die Leben vor Arbeitern aufs Spiel setzen, sind die Schuldigen des Massakers von Soma und müssen zur Rechenschaft gezogen werden“, erklärte der Gewerkschaftsbund KESK, der den öffentlichen Dienst vertritt

Die Zeche in Soma war erst vor wenigen Monaten privatisiert worden. Eine Kommission, die die prekäre Sicherheitslage in den türkischen Bergwerken untersuchen sollte, hatte die AKP erst vor kurzem abgeschmettert.

All das macht eines deutlich: Der Tod der Bergarbeiter könnte Recep Tayyip Erdogan gefährlicher werden als die zahlreichen Skandale und Angriffe auf die Meinungsfreiheit in den vergangenen Monate. Dabei hatte es davon reichlich gegeben: Vom brutalen Polizeieinsatz gegen die Gezi-Park Proteste über die massenhafte Versetzung von Polizisten und Korruptionsermittlern bis zur Sperrung von Twitter und YouTube.

Am Ende aber war Erdogan jedes Mal wieder als Sieger hervor gegangen – zuletzt stimmten vor wenigen Wochen 44 Prozent der Türken bei den Kommunalwahlen für seine islamisch-konservative AKP. Und der Stimmenfang soll weitergehen: In Ankara wird erwartet, dass Erdogan im August bei der Wahl zum Staatspräsidenten antreten will – dann wird das höchste Staatsamt zum ersten Mal in direkter Wahl entschieden. Die nächsten Tage werden über Erdogans Zukunft entscheiden.

Sein Berater Yerkel scheint die Dramatik noch nicht zu erkennen. Er verteidigte seinen Fußtritt: Der Mann sei ein rabiater Linksradikaler gewesen, der ihn und den Ministerpräsidenten beleidigt hätte.

 

 

merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.