Ablauf, Folgen: Was man zum Brexit wissen muss

Am Donnerstag entscheiden die Briten, ob sie Mitglied der EU bleiben oder nicht. Die AZ klärt die wichtigsten Fragen: Warum es ein Referendum gibt und welche Auswirkungen ein „Leave“ hätte.
Otto Zellmer, Detlef Drewes |
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Am "B-Day" (Brexit-Day) öffnen um acht Uhr (MESZ) die Wahllokale, ehe sie 15 Stunden später wieder schließen.
dpa Am "B-Day" (Brexit-Day) öffnen um acht Uhr (MESZ) die Wahllokale, ehe sie 15 Stunden später wieder schließen.

London - Das Zitat eines Europa-Politikers ist hängengeblieben: „Die Europäische Union wird im März 2017 60 Jahre alt. Und sie fühlt sich gerade so an wie ein 59-Jähriger, der auf die Diagnose des Arztes wartet: Ist der Tumor gut- oder bösartig?“ Am Donnerstag fällen die Briten ihr Urteil über ihr europäisches Sein oder Nichtsein. Doch um was geht es genau? Und was könnte passieren? Die AZ gibt Antworten auf die wichtigsten Fragen:

Was bedeutet das Wort Brexit eigentlich? Brexit ist ein Kofferwort aus „Britain“ und „Exit“ und bezeichnet einen Austritt Großbritanniens aus der EU. Vorbild ist der Grexit, also das Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone.

Warum dürfen die Briten darüber abstimmen, ob sie in der EU bleiben wollen oder nicht? Premierminister David Cameron hatte 2013 ein Referendum angesetzt, nachdem die europa-skeptischen Kräfte in Großbritannien wie die Ukip-Partei, aber auch nationalistische Kräfte in den eigenen Reihen stärker geworden waren. Mit diesem Vorstoß wollte er die innenpolitische Führung zurückgewinnen, obwohl er sich selbst für einen Verbleib ausspricht. Dafür forderte er von der EU aber Zusagen, um nicht länger unter dem „Diktat“ Brüssels zu stehen.

Lesen Sie hier: Brexit - welche Promis dafür, welche dagegen sind


Was waren das für Zusagen? Cameron will, dass Großbritannien sich aus der europäischen Integration heraushalten kann. Die Einwanderung soll gestoppt werden, Sozialleistungen für Immigranten ausgesetzt werden können. Was immer die Euro-Zone für sich beschließt – das Vereinigte Königreich will damit nichts zu tun haben. Das sind einige der Kernforderungen, deren Erfüllung die 27 anderen Mitgliedstaaten ihm zugesichert haben, wenn er in der Union bleibt.

Wie sieht der Zeitplan der Abstimmung aus? Am „B-Day“ (Brexit-Day) öffnen um acht Uhr (MESZ) die Wahllokale, ehe sie 15 Stunden später wieder schließen. Unmittelbar danach soll es weder Prognosen noch Hochrechnungen geben. In der Nacht auf Freitag werden dann die Ergebnisse der 382 Wahlbezirke bekanntgegeben. Am Freitagmorgen veröffentlicht die Wahlkommission ein Endergebnis.

Wenn die Mehrheit der Briten gegen einen Brexit stimmt, läuft dann alles normal weiter? Nein, dann müssen Reformarbeiten am europäischen Vertragswerk beginnen. Denn die Zusagen für die Briten erfordern Änderungen der EU-Grundlagen. Das klingt einfacher, als es ist, weil in Brüssel die Angst umgeht, dass bei einem solchen Prozess Forderungen von anderen Mitgliedstaaten erhoben werden könnten. Zudem gibt es in Brüssel Befürchtungen, dass ein möglicher EU-Austritt einen Dominoeffekt haben könnte. In der Tat haben die anti-europäischen Strömungen in Ländern wie Deutschland oder Frankreich stark zugenommen.

Visum für London?

Welche Folgen hätte ein Brexit für Großbritannien? In den vergangenen Wochen und Monaten haben viele Finanzinstitute und politische Vereinigungen Studien erstellt. Sie belegen, dass das Vereinigte Königreich ökonomische Einschnitte verkraften müsste. Der britische Finanzminister George Osborne – ein Brexit-Gegner – spricht von Steuererhöhungen und Sparmaßnahmen, die notwendig würden, weil die Regierung bis zu 37 Milliarden Euro ausgleichen müsse. Die Wirtschaft hätte wohl mit zusätzlichen Problemen zu tun, weil die Briten dann außerhalb des Binnenmarktes stünden und erst ein Freihandelsabkommen vereinbaren müssten. Die Folgen eines Brexit für den Finanzplatz London sind umstritten. Eine Seite beschwört dessen Untergang für den Fall des Austritts, wieder andere sagen ihm eine rosige Zukunft voraus – ohne die für sie lästigen EU-Gesetze.

Wie groß wäre der wirtschaftliche Schaden für die EU und Deutschland? Auch europäische Unternehmen müssten mit Einbrüchen rechnen. Das Ifo-Institut meint, Deutschland bis würde zu drei Prozent seines Wirtschaftswachstums einbüßen. Großbritannien ist Deutschlands drittgrößter Exportmarkt. Beim Bundesverband Groß- und Außenhandel (BGA) heißt es, mit Deutschland könnte „den wichtigsten Verbündeten für Freihandel und eine vernünftige Wirtschaftspolitik in Europa“ verlieren. Andere Gutachten sehen lediglich eine „kleine Delle“ für Europas Wachstum.

Welche Folgen hätte ein Brexit für Deutschlands Verbraucher? Viele Touristen fragen sich, ob sie künftig wieder ein Visum brauchen, wenn sie nach London reisen wollen. Es scheint aber keine Frage zu sein, dass die EU sich mit London schnell über die visafreie Einreise einigen würde. Anleger sollten aber auf der Hut sein. Jürgen Kurz von der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW) rechnet bei einem Brexit mit einem „kleineren bis mittleren Börsenbeben“. Er rät aber zu Gelassenheit. Wer investieren will, solle bei Firmen vorsichtig sein, die ihren Schwerpunkt in Großbritannien haben.

Was der EU ohne die Briten fehlt

Könnte das Vereinigte Königreich nach einem Votum pro Brexit das Referendum zurücknehmen? Es gibt Brexit-Befürworter, die genau dieses Ziel haben. Die Beschlusslage der EU ist allerdings unmissverständlich: „Es gibt keine Nachverhandlungen.“ Das haben die Staats- und Regierungschefs so vereinbart, als sie im Februar über die Zusagen für London redeten. Es fiel auch das Wort vom „letzten Angebot“. Ob die Spitzen der Union dabeibleiben, kann aber niemand vorher sagen. Da jedoch die Briten die europäische Solidarität damals schon ausgereizt hatten, ist die Entschlossenheit groß, diesen Kurs auch durchzusetzen.

Angeblich wollen die Schotten ja in der EU bleiben. Geht das? Wenn heute die Briten für einen Brexit stimmen, betrifft der Ausstieg aus der EU auch Schottland. Der Landesteil könnte allerdings einen eigenen Weg gehen. Dazu müssten sich die Schotten zunächst aus dem Vereinigten Königreich lösen, einen Staat gründen und dann ein Beitrittsgesuch stellen. Das würde viele Jahre dauern.

Hätte ein Brexit personelle Konsequenzen in Brüssel? Kürzlich tauchten Spekulationen auf, ob Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker seinen Hut nehmen werde, wenn die Briten die EU verlassen. Aber das scheinen nur Gerüchte zu sein. Dennoch müssten die Institutionen wohl umgebaut werden, weil britische Vertreter in Parlament, Kommission und Ministerrat Brüssel verlassen.

Müsste die EU eigentlich ihre Fahne ändern, wenn das UK austritt? Nein, die zwölf Sterne auf blauem Grund stehen nicht für die Mitgliedstaaten, sondern das Symbol der Vollkommenheit.

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