Vdk-Präsidentin Bentele: "Wer jetzt Gewinne macht, muss zur Kasse gebeten werden"
AZ-Interview mit Verena Bentele: Die 40-Jährige ist Präsidentin des Sozialverbands VdK und Teil des Landesvorstands in Bayern. Mit 2,1 Millionen Mitgliedern ist der VdK der größte Sozialverband Deutschlands. Die von Geburt an blinde Bentele war zudem Biathletin und Skilangläuferin und hat zwölfmal bei den Paralympics gesiegt.
AZ: Frau Bentele, eine beliebte Frage zu dieser Jahreszeit, die heuer besonders brisant ist, lautet: Hast du die Heizung schon angestellt? Wie sieht es bei Ihnen aus?
VERENA BENTELE: Nein, bisher heize ich noch nicht. Meine Wohnung ist zum Glück gut isoliert und ich kriege viel Sonnenlicht.
"Glaube nicht, dass die Menschen in ihren Wohnungen frieren müssen"
Wie wahrscheinlich ist es denn, dass die Menschen in diesem Winter wirklich in ihren Wohnungen frieren müssen?
Ich glaube und hoffe nicht, dass die Menschen in ihren Wohnungen frieren müssen. Es wird eine Lösung geben, die Ampel hat ja bereits einen Gaspreisdeckel angekündigt. Das Problem ist, dass wir im Moment noch nicht wissen, wie dieser umgesetzt wird. Das ist natürlich nicht gut, weil die Menschen eine Antwort brauchen. Dass noch nichts entschieden ist, verunsichert viele. Deswegen braucht es jetzt schnell Klarheit. Der VdK fordert schon lange, dass es ein bezahlbares Kontingent für Strom und Gas gibt, und das wäre auch die beste Lösung. Dagegen erreicht die angekündigte Ausweitung von Wohngeld nicht alle, die Unterstützung brauchen, wenn man weiß, wie lange Wohngeldanträge heute schon liegen, bis sie bearbeitet werden.

Mit der Wohngeldausweitung sind Sie also nicht zufrieden?
Ich bin zufrieden, dass es Hilfe für die geben soll, die Angst vor einer kalten Wohnung oder dem Verlust der Wohnung haben. Aber es gibt bisher nur die Ankündigung, den Anspruch auf Wohngeld auszuweiten. Die Anspruchsberechtigungen sollen sich von jetzt 600 000 auf circa zwei Millionen ab Januar 2023 ausweiten, jetzt kommt es drauf an, wie die Länder und Kommunen dies umsetzen. Und ich bin mir auch nicht sicher, ob dieser Empfängerkreis von zwei Millionen ausreicht. Unter unseren Mitgliedern gibt es viele, die jetzt schon sagen, dass sie mit der Energiepreispauschale in Höhe von 300 Euro nicht mehr klarkommen und dass sie vielleicht auch Wohngeld beantragen müssen.
In der Theorie klingt vieles gut, aber es kommt jetzt schon zu spät - lassen sich die Ampel-Maßnahmen so zusammenfassen?
Viele Maßnahmen dauern, vor allem die Eingriffe in den Gas- und Strommarkt müssen schnell kommen. Vieles ist derzeit nicht greifbar. Die Menschen können sich einfach nicht vorstellen, wie sie zu ihrer Leistung kommen sollen.
"Die Menschen haben einfach keine Rücklagen"
Womit kämpfen die Bürgerinnen und Bürger in der derzeitigen Krise denn am meisten?
Die Menschen haben einfach keine Rücklagen. Neben Gas und Strom wird ja aufgrund der Inflation auch alles andere teurer, etwa Lebensmittel. Für viele Menschen ist im Moment der finanzielle Druck das größte Problem. Sie wissen nicht mehr, was sie sich noch leisten können oder ob ihnen vielleicht irgendwann Strom und Gas abgedreht werden.
Betrifft das nur Menschen, die am Existenzminimum leben?
Nein, die Probleme ziehen sich bis tief in die Mittelschicht. Es betrifft Menschen, die wenig Rente haben und auch keine private Rentenversorgung abseits der gesetzlichen hatten. Es betrifft auch Familien, in denen nur einer verdient und der oder die andere nicht arbeiten kann, weil die Kinderbetreuung nicht vorhanden ist. Es betrifft Menschen im Niedriglohnsektor und viele weitere.
Bei der Bund-Länder-Runde kam wenig Konkretes heraus, dafür gab es viel Lob für bisherige Entlastungsmaßnahmen. Ist das gerechtfertigt?
Es gibt Maßnahmen, die vernünftig sind, etwa, dass Rentnerinnen und Rentner die Energiepauschale bekommen. Das ist gerade für diejenigen mit sehr wenig Geld wichtig. Aber es ist auch klar, dass die bisherigen Entlastungen überhaupt nicht reichen. Und man hat ja auch gesehen, wie wenig einig die Bund-Länder-Arbeitsgruppe ist. Das Hauptdilemma ist ja, dass vollkommen unklar ist, wie die Maßnahmen finanziert werden.
"Es braucht einen wirklichen Eingriff ins System"
Bundeskanzler Olaf Scholz spricht von Kosten für alle bisherigen und künftigen Entlastungsmaßnahmen in Höhe von 295 Milliarden Euro. Wer soll das bezahlen?
Unabhängig davon, wie sich Bund und Länder über die Aufteilung der Finanzen einigen, geht es uns als VdK vor allem darum, woher das Geld kommen kann. Und dabei ist völlig klar: Diejenigen Konzerne, die in dieser Krise große Gewinne gemacht haben, muss man jetzt wirklich schnell zur Kasse bitten. Sprich: Die Zufalls- oder Übergewinnsteuer, wie auch immer die Ampel sie nennen will, muss kommen. Darüber hinaus müssen auch sehr Vermögende einen Beitrag leisten. Wir als VdK fordern schon lange eine Vermögensabgabe beziehungsweise eine Vermögenssteuer. Um für viele Menschen die Existenz zu sichern, reicht es nicht, die größten Härten allein durch Sozialleistungen abzufangen. Es braucht einen wirklichen Eingriff ins System – und zwar, indem man direkt bei den hohen Preisen ansetzt.
Auf eine Steuer auf "Zufallsgewinne" hat sich die Ampel nach langem Ringen geeinigt, doch wann und wie sie kommen soll, ist unklar. Halten Sie eine Umsetzung wirklich für realistisch?
Wir können nur hoffen, dass die Ampel sich einigt und diese auch umsetzt.
9-Euro-Nachfolgeticket für 29 Euro?
Offen ist auch die konkrete Umsetzung eines Strom- und Gaspreisdeckels, zumindest in Deutschland. Wie muss der aussehen, damit er wirkt?
Er muss auf jeden Fall so aussehen, dass Haushalte und auch kleine Betriebe wie ein Bäcker oder auch ein kleiner Handwerksbetrieb kalkulieren können. Die brauchen eine bezahlbare Menge an Strom und Gas, mit der sie rechnen können. Dass es für diejenigen, die darüber hinaus mehr verbrauchen, teurer wird, lässt sich wohl in der derzeitigen Situation leider nicht vermeiden.
Eine weitere mögliche Entlastung wäre ein Nachfolger für das schon im August ausgelaufene 9-Euro-Ticket. Wie viel darf das maximal kosten, um attraktiv zu sein?
Klar ist, dass es eine Nachfolge geben muss und diese auch für alle Menschen bezahlbar sein muss. Das Bündnis Mobilitätswende, dem der VdK angehört, spricht sich für ein Nachfolgeticket in Höhe von 29 Euro aus.
Warum dieser Betrag?
Dieser Betrag kann auch mit Grundsicherung – sprich Hartz IV oder ab 2023 Bürgergeld – noch bestritten werden. Derzeit liegt der Hartz-IV-Regelsatz für Mobilität bei circa 40 Euro. Wenn man einberechnet, dass vielleicht auch mal das Fahrrad kaputt geht, dann sind 29 Euro das, was man sich davon gerade noch leisten kann.
"Langfristig braucht es deutlich mehr sozialen und barrierefreien Wohnungsbau"
Menschen müssen aber nicht nur mobil sein, sondern sich vor allem erstmal die eigenen vier Wände leisten können. Neben der Wohngeldreform hat die Ampel auch einen Kündigungsschutz für Mieter ins Spiel gebracht, wenn diese Strom und Gas nicht mehr bezahlen können. Reicht das?
Wichtig ist, dass es keine Strom- und Gassperren gibt. Und natürlich wird Wohnen das große Thema in einer Stadt wie München und auch in anderen Städten bleiben. Die nun angekündigten Maßnahmen der Ampel können hier aber nur Übergangslösungen sein. Langfristig braucht es deutlich mehr sozialen und auch barrierefreien Wohnungsbau, mit Wohnungen, die auch wirklich bezahlbar sind. Dafür setzt der VdK sich auch im Bündnis Bezahlbares Wohnen der Bundesregierung ein. Derzeit ist es aber sehr fraglich, ob das Ziel von 400.000 neuen Wohnungen pro Jahr erreicht wird. Da wird es noch viel Anstrengung brauchen.
Besonders in Ostdeutschland gibt es bereits Proteste gegen die hohen Energiepreise, Experten warnen vor sozialen Verwerfungen. Teilen Sie diese Befürchtung?
Ich kann natürlich verstehen, dass die Menschen riesige Sorgen haben, aber unsere Überzeugung ist, dass man sich vor allem auf Lösungen konzentrieren muss. Das tun wir mit viel Öffentlichkeitsarbeit und mit politischen Gesprächen. Das Problem an den derzeitigen Protesten ist, dass man immer sehr vorsichtig sein muss, mit wem man sich zusammentut. Wir wollen uns ganz deutlich abgrenzen von Querdenkern und Populisten.
"Herr Merz sollte lieber mal über Niedriglöhne nachdenken"
Wie hoch ist die Gefahr, dass die Proteste eskalieren?
Ich glaube schon, dass es ein riesiges Konfliktpotenzial in der Gesellschaft gibt, weil viele Menschen eben nicht mehr wissen, wie sie finanziell klarkommen sollen. Gerade deswegen braucht es gute Informationen und politische Lösungen.
Eine Lösung soll das Bürgergeld sein, das ab 2023 Hartz IV ablösen soll. Die Empörung war groß, viele sahen die Gefahr, dass die Motivation zum Arbeiten geschmälert werde. Oppositionsführer Friedrich Merz sprach davon, das Bürgergeld setze "falsche Anreize" für Zuwanderer. Hat er recht?
Das Bürgergeld wird keine falschen Anreize setzen, weder für Zuwanderer noch für deutsche Staatsbürger. Statt solche fehlgeleiteten Debatten anzustoßen, sollte sich Herr Merz lieber mal mit der Frage beschäftigen, wie die Bezahlung im Niedriglohnsektor in den letzten Jahren gestaltet wurde. Wir sehen es ganz anders als Herr Merz, denn wir finden, dass die Höhe der Regelsätze dringend nochmal nach oben korrigiert werden müsste auf über 600 Euro. Mit Blick auf die derzeitige Inflation und die hohen Energiekosten reichen die jetzt angedachten Sätze nicht aus. Am neuen Bürgergeld finde ich sehr gut, dass mehr vermittelt werden soll, dass mehr Qualifizierungsanreize gegeben werden sollen und Menschen zum Beispiel ihren Schulabschluss nachholen können. Das ist ein guter Weg.
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