So rekrutiert der IS seine "Do-it-yourself-Terroristen"

Plötzlich radikalisiert begehen Attentäter blutige Angriffe im Namen des Islamischen Staates, obwohl bisher keine Verbindung zwischen ihnen und der Terrormiliz bekannt war. Verantwortlich für die zügige Radikalisierung ist die Medienstruktur des IS.
von  AZ
Videos wie das des Terroristen Amedy Coulibaly sind nur ein kleiner Kommunikationsweg des Islamischen Staates.
Videos wie das des Terroristen Amedy Coulibaly sind nur ein kleiner Kommunikationsweg des Islamischen Staates. © Herbert Knosowski (dpa)

Sie sind jung, vor Kriegen in ihrer Heimatregion geflohen, wissen zum Teil selbst gar nicht, ob sie dem Islam angehören und haben häufig psychische Probleme. Und beinahe über Nacht wandeln sie sich von gewöhnlichen Menschen zu (selbst)zerstörerischen Attentätern. Nach den Taten bekennt sich der Islamische Staat dazu und würdigt die Täter als „Soldaten“ oder „Kämpfer“. Und immer wieder stellt sich so die Frage, ob der Islamische Staat gezielt seine Kämpfer als Flüchtlinge nach Europa schickt, um Attentate zu begehen, oder wie sich die Täter so plötzlich radikalisierten.

Nicht erst seit der IS immer mehr an Gebieten und Einfluss verliert, kommuniziert der Islamische Staat intensiv mit weltweiten Anhängern und Interessenten. Er hat sich in den letzten Monaten ein kaum fassbares Medienimperium aufgebaut: Werbeplakate, Videos, Radiosender, Apps und Magazine - der IS kommuniziert mit seinen Anhängern über verschiedenste Medien, ganz unabhängig davon, wo sich die Empfänger befinden. Die bereits bestehenden Anhänger sollten mit Infos versorgt werden, Interessenten angelockt.

Propaganda zum Lesen und Hören

Im Zentrum der Kommunikation des IS steht das Medienzentrum Al-Hayat, wörtlich übersetzt „das Leben“. Eine eigene virtuelle Medienabteilung produziert Videos, Werbebanner und Printmedien, stets mehrsprachig in Englisch, Russisch, Deutsch und Französisch, um ein großes westliches Publikum anzusprechen. Die Einrichtung bezieht sich gezielt auf dieses Publikum – denn wer kein Arabisch kann, kann die gemäß der IS-Ideologie übersetzten und interpretierten Koranverse nicht hinterfragen.

Das Al-Hayat-Mediacenter veröffentlicht außerdem jeweils im Abstand von zwei bis vier Monaten das Online-Propaganda-Magazin „Dabiq“, eine Art Lifestyle-Magazin für IS-Anhänger. Was äußerlich in Hochglanzaufmachung qualitativ hochwertig wirkt, ist inhaltlich von kaum zu überbietender Brutalität: Fotos von Kinderleichen, blutüberströmten Körpern und Ratings von brutalen Videos stehen neben Aufforderungen zu Morden und den „positiven“ Seiten des IS, wie der Bau von Straßen oder Seniorenheimen.

Amaq (dt. die Tiefen) stellt als eine Art Nachrichtenagentur das Sprachrohr des IS dar. Diese Einrichtung kommuniziert völlig anders als die restlichen IS-Medien, da Amaq weniger zu Propagandazwecken verwendet wird, sondern als Informationsquelle dient. Die Aufmachung und Organisation der Agentur orientiert sich an internationalen Medien und Agenturen, es wird Abstand gehalten von brutalen Bildern, Videos und Ausdrücken.

IS-Kämpfer beantworten online Fragen

Hinter Al-Bayan versteckt sich der eigene Radiosender des IS. Von Mossul aus sind in großen Teilen der vom IS kontrollierten Gebiete über Radiofrequenzen aber auch über das Internet Radiosendungen in verschiedenen Sprachen empfangbar. Musik, Rechtslehre, Koranlesungen und Interviews werden, versehen mit dem Charakter der IS-Propaganda, ausgestrahlt.

Auch Soziale Netzwerke wurden für den IS in der letzten Zeit immer wichtiger. Besonders Twitter wird neben Facebook und Youtube häufig dafür verwendet, um Botschaften innerhalb kürzester Zeit zu verteilen. Twitter stellt, auch wenn die IS-Accounts immer wieder gelöscht werden, einen der wichtigsten Kommunikationswege des IS dar. Die Nachrichten werden über ein Schneeballprinzip verteilt: empfangene Nachrichten und Tweets leiten die Anhänger an ihre Freunde weiter.

Immer wieder versuchen die Terroristen auch neuere soziale Netze einzusetzen. So wurde Ask.fm als Frage-Antwort-Portal für westliche "Dschihad-Interessenten" verwendet, die vor ihrer Abreise noch Fragen hatten. „Brauche ich eine Zahnbürste?“, „Kann ich bei euch Kleidung kaufen?“ oder „Wie viel kostet die Reise nach Syrien?“ waren Fragen auf verschiedenen Accounts. IS-Kämpfer antworteten und gaben Ratschläge.

"Haruf" – eine IS-App für Kinder

Selbst Kinder werden von den Lockversuchen der Terroristen nicht verschont: die App Haruf (dt. für Alphabet) soll Kindern das Alphabet und einfache Wörter lernen, nur eben mit IS-Methoden. Während in deutschen Grundschulen das „B“ mit Bildern von Bären oder Bäumen gelernt wird, verwendet der IS in der App für den Buchstaben „Ba“ das Wort arabische Wort für Gewehr, bindaqih, mit passenden Bildern. Das „Sin“ steht für saif, das Schwert.

Ziel der Botschaft in den verschiedenen Medienkanälen des IS: Sympathie bei Interessenten wecken, die sich dadurch animiert dem Dschihad anschließen. Hierfür nötig wird das Bild eines Feindes, den es für den IS als einzig richtigen Weg zu bekämpfen gilt. Dies belegte der Medienwissenschaftler Hans Kleinsteuber schon am Beispiel Osama bin Ladens. Es gibt nur Gut oder Böse, Dschihad oder Ungläubig.

Die Medien zeigen den Interessierten ein Bild davon, was der Islamische Staat im Sinne des Guten darstellt, der sich darin als erstrebenswerte und kaum mit Nachteilen versehene Institution selbst inszeniert. Die Botschaften werden so gestaltet, dass sie möglichst ansprechend auf junge Interessenten im Westen wirken. Erfolge, ein festes Ziel und Information werden so dargestellt, dass die Gräueltaten des IS nicht mehr abstoßend wirken, sondern anziehend.

Von psychischen Problemen zu "Do-it-yourself-Terroristen"

Besonders auf Menschen mit psychischen Schwierigkeiten wirken genau diese Botschaften letztendlich fatal. Laut Jens Hoffmann vom Institut Psychologie und Bedrohungsmanagement in Darmstadt dient das Interesse am IS als Ausgleich für die unstabile Lebensituation. Die Betroffenen sind einsam, bewegen sich zwischen Frustration, Aggression und sonstigen Gefühlen, interessieren sich für das Extreme. Hoffmann: "Die Täter werden durch die Radikalisierung versuchen, wieder Sinn im Leben zu finden."

Das, was der IS durch sein Medienimperium veröffentlicht, wirkt dabei auf sie nicht verrückt oder abstoßend – sie sehen das Bild eines einflussreichen „Staates“, mit überwiegend Vorteilen, der stets ein großes Ziel verfolgt. Dabei seien die Täter der Überzeugung, der IS wäre nachträglich stolz auf ihre Taten und würde sie als Helden wahrnehmen, sagt der Terrorismusexperte Brian Michael Jenkins. Dies würde die Täter weiter antreiben.

Potenzielle Attentäter wollen nach den ersten Kontakten immer mehr von dem, was der IS über sich preis gibt. Sie fühlen sich angesprochen, identifizieren sich plötzlich mit dem Terrorismus und Folgen dem Aufruf des IS, „die Staaten der Koalition, die den IS bekämpfen, anzugreifen“. Eigenständig planen sie Attentate und hinterlassen Bekennervideos oder Hinweise auf ihr Interesse am IS. Unabhängig davon, wo sie sich befinden, erstellt der IS durch seine Kommunikation „Do-it-yourself-Terroristen“, die sich plötzlich selbst radikalisieren und Attentate begehen, häufig mit wenig Aufwand wie mit Messern, Äxten oder Fahrzeugen.

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