Nach Krawallen in Köln: (Un)reif fürs Abi?

Nach den Krawallen an einer Kölner Schule fragen sich viele: Warum feiern heutige Absolventen so exzessiv? Sind das die Folgen der kürzeren Schulzeit?
Werner Herpell |
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Die Prüfungen sind vorbei – die Anstrengungen vergessen. Leider manches Mal auch die Manieren.
dpa Die Prüfungen sind vorbei – die Anstrengungen vergessen. Leider manches Mal auch die Manieren.

München - Bis zu 200 aufeinander losgehende Schüler, zwei Schwerverletzte – die Gewaltexzesse rund um das Kölner Humboldt-Gymnasium vor einer Woche werfen einen Schatten auf den Abiturjahrgang 2016. Die Oberbürgermeisterin der Domstadt, Henriette Reker, bringt auf den Punkt, was viele denken: „Früher sprach man von einem „Reifezeugnis“, hier aber ist die Unreife offenkundig.“

Auch Bildungsexperten denken darüber nach, was bei diesen speziellen Abiturienten in spe schiefgegangen ist und ob es gar einen Fehler im System gibt. Stichwort: gymnasiale Schulzeitverkürzung – G8 statt G9, zwölf statt 13 Jahre bis zum Abitur.

Erneut Abi-Randale in Köln: Zwei schwer verletzte Schüler

„Abi-Streiche gibt es ja seit den 70er Jahren, teilweise waren sie auch schon früher nicht immer freundlich“, sagt Heinz-Peter Meidinger, Vorsitzender des Philologenverbandes. „Aber was jetzt passiert, ist ganz etwas anderes: Welche Schule toppt die andere, und zwar nicht bei Intelligenz oder Feinsinnigkeit des Abiturscherzes, sondern in der Heftigkeit.

Bei aus dem Ruder laufenden Abi-„Scherzen“ empfiehlt Meidinger härtere Strafandrohungen. „Kurz vor oder erst recht nach den Prüfungen kann man zwar nicht mehr mit Schulverweisen kommen, aber man könnte über die Stränge schlagende Schüler von Abiturfeiern ausschließen. Die schlimmste Sanktion wäre natürlich ein Vermerk im Abiturzeugnis, dass es da gewisse Vorfälle in der Schullaufbahn gab.“

 

Lehrerin sagt: „In dieser Lebensphase ist ein Jahr eine ganze Welt“

 

Aber Meidinger sagt auch: „Vielleicht liegt es ja auch daran, dass die Schüler bei der Reifeprüfung mittlerweile zu jung sind. Dass G8-Schüler teilweise schon mit 17 ihr Abi machen, hat die persönliche Reife sicher nicht befördert.“ Seit dem G8-Start vor rund 15 Jahren werden die Ergebnisse mit Spannung beobachtet. So fand das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) heraus, dass die Reform das Durchschnittsalter statistisch um 10,3 Monate reduziert hat. Bei einer Einschulung mit fünf Jahren ist ein Schüler beim Abi gerade mal 17.

 

Bürgermeisterin Reker: Verwahrlosung durch Wohlstand

 

Den Eindruck einer erfahrenen Gymnasiallehrerin, dass „in dieser Lebensphase ein Jahr eine ganze Welt bedeuten kann“, bestätigt der Bildungsforscher Marko Neumann. Allerdings lasse sich persönliche Reife nunmal kaum messen. „Es gibt natürlich die Klagen von Hochschullehrern, dass Abiturienten, die jetzt in die Hörsäle strömen, unreifer sind. Aber empirisch belastbar ist das nicht“, sagt der Abitur-Experte des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF).

Neumann warnt davor, davon zu viel abzuleiten: „Es gibt doch auch gesamtgesellschaftliche Aspekte. Jugendliche wachsen heute anders auf als früher, auch so verändern sich Persönlichkeitsmerkmale. Es ist also schwierig, nun alles auf den Faktor Schulzeitverkürzung zurückzuführen.“ Kölns Oberbürgermeisterin Reker spricht im Zusammenhang mit den Krawallen auch von „Wohlstandsverwahrlosung“.

Ein weiterer Aspekt: Hat der von Schülern und Eltern beklagte Stress durch eine komprimierte Gymnasialzeit bei ähnlichen Inhalten tatsächlich zugenommen? Als Ausrede fürs Ausflippen beim Feiern vor oder nach dem Abi sei der G8-Stress gleichwohl völlig inakzeptabel. Das habe „nichts mit Schulzeitverkürzung zu tun. Nein, die G8-Frage spielt da keine Rolle“, so Neumann.

Nicht erst mit den Kölner Ausschreitungen wird über Sinn und Unsinn von Abi-Jux, über „Mottowochen“ und Saufgelage vor Abschlussprüfungen diskutiert. Die Bonner Kulturwissenschaftlerin Katrin Bauer sagt, „dass die Abi-Gags in den vergangenen Jahren stärker reglementiert wurden durch die Schulen, auch aufgrund von Vorfällen mit Alkohol. Abiturienten mussten teilweise richtige Verträge unterschreiben und wurden haftbar gemacht für eventuelle Schäden. Teilweise wurden Abi-Gags verboten oder abgesagt.“

 

Trotzdem Appell: Abischerz-Tradition nicht aufgeben

 

Die Schüler des bayerischen Gymnasiums Olching trugen im vorigen Juni symbolisch „den Abi-Streich zu Grabe“. Begründung: „Erst wurde uns verboten, Abi-Plakate aufzuhängen, dann durften wir am Tag vor dem Abi-Streich nicht auf dem Sportplatz übernachten. Dann verbot man uns sogar noch das Verwenden von Wasserspritz-Pistolen – eine uralte Tradition!“

An anderen bayerischen Gymnasien registrierten Schulleiter hingegen, dass viele Schüler wegen der anstrengenden Prüfungen zu erschöpft für Abi-Scherze waren. Bildungsforscher Neumann fände eine solche Entwicklung „ein Stück weit schade, weil es ja ein Teil der Schultradition ist. Man kann nur hoffen, dass bei künftigen Abi-Generationen für moderate, kreative Scherze noch genügend Kraft ist.“

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