"Mein Weg zurück aus dem Koma"
"Die Gier aufs Leben hat mich angespornt, nie aufzugeben“, sagt Erich Schulz. Sechs Wochen lag Schulz im Koma. Ein Schicksal wie das von Michael Schumacher. Der AZ erzählt der Münchner, der jetzt in der Nähe von Stuttgart lebt, wie er sich zurück ins Leben kämpfte.
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Es war der 13. Juli 1995, als Erich Schulz mit damals 44 Jahren mit Tempo 140 auf der Lindauer Autobahn bei Etterschlag in einen stehenden Lkw rast. Eine Dreiviertelstunde brauchen die Rettungskräfte, um ihn aus seinem völlig zerstörten BMW zu befreien. Als er endlich geborgen wird, hat sein Herz schon aufgehört zu schlagen. Aber er kann reanimiert werden. Ein zweites Mal wird er im Hubschrauber auf dem Weg ins Harlachinger Krankenhaus zurück ins Leben geholt. Sein Herz kämpft.
Dann liegt der erfolgreiche Werbefachmann für sechs Wochen im Koma. „Daran kann ich mich nicht erinnern. Genauso wenig wie an die Wochen davor und danach.“ Schulz erste bewusste Erinnerung ist aus dem November 1995. „Das ist eine ziemlich blutige, denn da habe ich versucht, mich zu rasieren.“ Schulz lacht, als er das erzählt, aber es ist ein bitteres, blechernes Lachen – noch Jahre danach.
43 Knochenbrüche und fünf Blutungen im Gehirn hat er sich durch den Unfall zugezogen, unter anderem war er geschädigt durch ein schweres Schädel-, Hirn- und inneres Polytrauma. 23 Mal wurde er operiert, drei Mal davon am Kopf. „Die Ärzte hatten mich abgeschrieben, dachten, aus mir wird nichts mehr. Aber ich habe es ihnen gezeigt.“ Als Schulz aus dem Koma erwacht, weiß er nicht, wo er sich befindet und was passiert ist.
Die Menschen, die um ihn herum stehen, erkennt er nicht. Es ist sein Vater, seine damalige Frau Angelika und seine Tochter Melanie. „Als ich sie gesehen habe, kamen sie mir zwar bekannt vor, aber ich wusste nicht, wer sie waren. Sogar meinen eigenen Namen wusste ich nicht. Ich habe mich entsetzlich geschämt.“ Hilflos sei er gewesen, er habe wahnsinnige Angst gehabt, konnte sich seinen Zustand nicht erklären. Erst nach und nach, als ihm erzählt wird, was passiert ist, macht er seinen Frieden mit der Situation.
Er arrangiert sich, muss aber trotzdem alles neu lernen. „Da waren Buchstaben an der Wand. Schilder. Aber ich konnte sie einfach nicht lesen. Aus Buchstaben Wörter zu machen, habe ich einfach nicht mehr gekonnt.“ Sogar das Schlucken, das Atmen und auch Essen – all diese Dinge, die für jeden Menschen „normal“ sind, waren Schulz fremd. „Natürlich habe ich geatmet, aber nicht bewusst.“
Seine Familie weicht nicht von seiner Seite, sie macht ihm Mut und gibt ihm Kraft. „Anders als die Ärzte, denn einer wollte mir doch glatt die Krücken verweigern“, sagt er. Aber dem hat er es dann gezeigt. „Heute kann ich wieder richtig gut laufen“, sagt er. Sogar das Skifahren hat er wieder versucht. „Dass ich die blaue Abfahrt in Spitzingsee geschafft habe, das hat mir gut getan.“ Das Schwierigste allerdings ist, wieder Sprechen zu lernen. „Ich hatte Wörter im Kopf, konnte sie aber nicht formulieren.“
Selbst heute, 18 Jahre nach seinem lebensgefährlichen Unfall, sind die Folgen, die das Sprachzentrum im Gehirn von seinem Unfall davongetragen hat, zu hören. „Vor allem nach einem anstrengenden Tag lalle ich, als wäre ich volltrunken“.
Es war ein langer Prozess, dieses Problem offensiv anzugehen. Angetrieben von seinem Willen zu leben, will und muss er wieder arbeiten. Er besinnt sich nach fast vier Jahren Krankenhaus und Reha in Spezialeinrichtungen für Unfallchirurgie und Neurologie auf das, was er kann. Allerdings muss er ganz unten anfangen. Seine Ehe zu seiner ersten großen Liebe Angelika, wegen der der gebürtige Mainzer nach München gekommen war, zerbricht.
Er hat nicht viel mehr als einen VW Golf – und den Willen, endlich wieder zu arbeiten. „Ich konnte mir keine Wohnung leisten und da habe ich vier Monate in meinem Golf geschlafen. Dann hat mir ein Mobilfunkunternehmen die Chance auf Arbeit gegeben und ich habe sie genutzt.“
Schulz wird Verkäufer für Telefonanschlüsse. Trotz Sprachstörung. „Bei einem Rhetorik-Abend, den ich bei der IHK besucht habe, habe ich zwar nicht meine Sprache zurückbekommen, aber genug Selbstvertrauen. Da habe ich angefangen zu reden und meine Scham zu überwinden. Ich habe all den Menschen meine Geschichte erzählt. Es hat funktioniert, ich konnte sie überzeugen.“ Schulz erzählt sogar den Menschen, denen er Telefonanschlüsse verkauft von seinem Unfall. „Sonst hätte mir doch niemand zugehört. Alle hätten gedacht, ich sei betrunken“, sagt er.
Schulz ist heute 62 Jahre alt. Gerade in den letzten Tagen denkt er oft an seinen Unfall vor 18 Jahren und seinen Kampf zurück ins Leben nach. Denn wie er damals liegt heute Michael Schumacher im Koma. Der Ex-Formel-1-Pilot ist im selben Alter verunglückt wie einst Schulz. „Ich wünsche ihm, dass seine Familie bei ihm ist, wenn er wach wird“, sagt Schulz. „Auch wenn er sie nicht erkennt, ist es wichtig, ein warmes, angenehmes Gefühl im Bauch zu haben – und das bekommt er garantiert, wenn er Menschen sieht, die er liebt.“
Er wünscht ihm, dass ihm seine Familie und Ärzte helfen, sich auf die Dinge zu konzentrieren, die er kann, nicht auf die, die er nicht kann. Erich Schulz ist vor einiger Zeit ein weiteres Mal operiert worden. Er trägt jetzt an der linken Schulter und am Oberarm eine Prothese, weil dort die Knochen bei seinem Unfall völlig zerstört wurden. „Aber ich kann damit gut leben“, sagt er.
„Wichtig ist mir nicht, dass ich gut dabei aussehe, wenn ich mir meine Krawatte zubinde, sondern dass sie am Ende sitzt. Und das tut sie.“ Seine Firma hat Schulz „Re-Start“, also „Neustart“ genannt. „Ich finde, der Name passt gut zu mir“, sagt er. Mit ihr verkauft Schulz seit einigen Jahren erfolgreich Autos im Internet. Mit seiner Firma in Schlaitdorf bei Stuttgart und seiner neuen Lebensgefährtin Evelyn hat er es erfolgreich geschafft, seine „Gier aufs Leben“ zu stillen.
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