Gift im Wildfleisch: Die Sauerei mit der Strahlung

An dem Tag, an dem der Jagdchef es verbietet, mit Helmut Rummel über Zahlen zu reden, hat der sie alle schon beisammen. Zahlen, die so sonst keiner kennt. Weil sie wohl keiner so genau kennen soll. Oder will. Denn es sind Zahlen über radioaktiv verseuchte Wildschweine. Und es sind sehr hohe Zahlen.
von  Christian Pfaffinger
Helmut Rummel mit einer Karte von gemessener Radioaktivität in Bayern. Wildschweine nehmen bei ihrer Nahrungssuche besonders viel dieser Radioaktivität auf.
Helmut Rummel mit einer Karte von gemessener Radioaktivität in Bayern. Wildschweine nehmen bei ihrer Nahrungssuche besonders viel dieser Radioaktivität auf. © blickwinkel/S.Meyers/imago, Christian Pfaffinger

München - Wildschweinfleisch darf in Deutschland eine Radioaktivität von 600 Becquerel pro Kilo haben. Helmut Rummel hat in nur drei Jahren Tausende Werte oberhalb dieser Grenze gefunden. 208 Proben lagen über 10 000 Becquerel pro Kilo. Im schlimmsten Fall war der Grenzwert sogar um das 45-fache überschritten.

Alarmierende Zahlen, denn: Dass 30 Jahre nachdem die Radioaktivität aus Tschernobyl im Regen auf Bayern niederfiel, Wildschweine noch mit am meisten verseucht sind, das weiß man. Wie sehr, das weiß kaum einer. „Wie auch?“, fragt Helmut Rummel. „Die Daten werden ja verheimlicht.“

Lesen Sie hier: München und Region - Wie verstrahlt ist Bayern?

Helmut Rummel ärgert das. Seit Jahrzehnten misst er Radioaktivität. Früher war er Funker und Strahlenbeauftragter bei der Bundeswehr, heute ist er 76 Jahre alt, Rentner und betreibt in Murnau am Staffelsee eine zertifizierte Messstation für Radiocäsium – ein Produkt aus der Kernspaltung, mit dem die Umwelt seit Atomwaffentests, vor allem aber seit Tschernobyl belastet ist.

Besonders Wildschweine sind betroffen (siehe Kasten). Wenn ein Jäger ein Wildschwein schießt, muss er daher dessen Fleisch in einer Messstation testen lassen, bevor es in den Handel darf. Ist das Schwein zu radioaktiv, gibt es eine Entschädigung.

 

„14 000 Messwerte – und der Verbraucher erfährt keinen einzigen“

 

Immer wieder fallen Rummel bei diesen Tests hohe Werte auf. Weil er aber nur eine der rund 111 offiziellen Messstellen in Bayern betreibt, will er es genau wissen und forscht nach. Bei den Messstellen der Bayerischen Staatsforsten will aber niemand Rummel die Werte sagen. Die Stellen des Bayerischen Jagdverbands geben ihm Auskunft. So kommt der Rentner an die extremen Werte.

„Wildbret ist dank des Jagdverbands eines der bestüberwachten Lebensmittel“, erklärt BJV-Vizepräsident Günther Baumer in einer Mitteilung zum Tschernobyl-Jahrestag.

Als der Verbandspräsident erfährt, dass Rummel ausführlich Auskunft bekommen hat, gibt er ein Schreiben an die Messstellen heraus, keine Daten mehr zu verraten.

Rummel hat da aber schon die brisanten Messungen. Sein Urteil: „Eine katastrophale Desinformation.“ Denn von den rund 14 000 Messwerten, die der Jagdverband und die Staatsforsten zusammen im Jahr erheben, erfährt der Verbraucher keinen einzigen. Der Jagdverband kennt seine Werte nicht mal selbst. Dabei hat der Verband seine Messstationen doch selbst eingerichtet. Das erklärt der Jagdverband offiziell damit, dass die Daten der Jäger geschützt werden müssen. Sogar vor dem eigenen Verband.

Was der Verbraucher stattdessen erfährt, sind die Ergebnisse einiger Stichproben des Landesamts für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL). 74 Proben Wildschweinfleisch habe das Amt 2013 untersucht, neun davon hätten den Grenzwert überschritten, so die Statistik. 74 Stichproben, wo es rund 14 000 Daten aus Messungen gibt – die dabei schlicht nicht beachtet werden.

 

Statt Wildschweine testet man Rinder, die nicht belastet sind

 

Dafür untersucht das LGL unsinnigerweise jede Menge anderes Fleisch“, sagt Helmut Rummel. Er hat Zahlen parat: In den am meisten belasteten Regionen Augsburg und Regen habe das LGL innerhalb von drei Jahren nur jeweils zwei Proben Wildschweinfleisch genommen, dafür aber jeweils 14 Proben von anderen Fleischsorten wie Rindfleisch – obwohl man genau wisse, dass nur noch Wildschwein bedenklich belastet sei. In den ebenfalls stark belasteten Regionen Garmisch-Partenkirchen und Berchtesgaden sei in dieser Zeit vom LGL gar kein Wildschweinfleisch getestet worden. Rummel kritisiert: „Diese Praxis ist nicht risikoorientiert, wie es eigentlich sein sollte.“

Unveröffentlichte Messwerte, kaum Stichproben – das darf nicht sein, sagt Helmut Rummel. Bloß: Weder das Umweltministerium, dem das LGL unterstellt ist, noch das Landwirtschaftsministerium, das die Aufsicht über die Bayerische Staatsforsten hat, noch der Jagdverband wollen an ihrer Praxis etwas ändern.

„Der Verbraucher muss doch informiert werden“, findet Rummel. „Dann kann er selbst entscheiden, was er macht.“

Denn: Selbst wer Wildschweinfleisch isst, das stark über dem Grenzwert belastet ist, wird nicht gleich krank davon. Es ist wie mit dem Fliegen oder mit Röntgenaufnahmen: Mit jedem Mal erhöht sich das Risiko.

Die Strahlung von einer Portion Fleisch mit 600 Becquerel Cäsium, erklärt der Jagdverband, sei „ungefähr ein Tausendstel vom dem Wert, den ein durchschnittlicher Bundesbürger im Jahr an Radioaktivität zu und auf sich nimmt“ – jeder Flug sei belastender.

Bei den meisten Proben, die genommen werden, liegt die Belastung unter dem Grenzwert, das betont auch Rummel. „Aber man kann doch deshalb nicht den Rest verschweigen.“

 

Risikozone Waldboden

 

Warum gerade Schwarzwild so belastet ist
Wildschweine wühlen im Waldboden nach Nahrung. Dieser Boden ist wesentlich stärker belastet als etwa das Weideland von Rindern. Denn während auf Äckern und Wiesen das Radiocäsium immer weiter versickert, bleibt es im Wald in einem natürlichen Kreislauf: Bäume nehmen es über die Wurzeln auf, es gelangt in Blätter und Nadeln, die fallen auf die Erde und verfaulen, das Radiocäsium gelangt wieder in den Boden und es geht von vorne los. Außerdem fressen Wildschweine auch Pilze, die ebenso belastet sind. So reichert sich Radiocäsium im Körper der Tiere an – wie viel, das wird erst nach dem Schlachten gemessen. Damit Jäger keine Ausfälle haben, zahlt der Staat Entschädigungen: 2014 waren das rund 350 000 Euro.

 

Greenpeace-Umfrage: 85 Prozent - Weiterer GAU möglich
30 Jahre nach der bisher größten Atomkatastrophe in Tschernobyl halten 85 Prozent der Deutschen über 45 Jahre einen ähnlich schweren Atomkraft-Unfall auch in Mittel- und Westeuropa für möglich. Das ergab eine TNS-Emnid Umfrage im Auftrag der Umweltschutzorganisation Greenpeace, bei der insgesamt 1012 Menschen befragt wurden, die 1986 mindestens 15 Jahre alt waren, also den GAU bewusst erlebt haben können. 61 Prozent der Befragten gaben außerdem an, Tschernobyl habe ihre persönliche Meinung über Atomkraft negativ verändert. 66 Prozent äußerten, sie hätten Sorge gehabt, dass Tschernobyl sie persönlich betreffen könne.

 

Tschernobyl-Chronologie
25. April 1986, 23:10 Uhr: Die Mannschaft des Kernkraftwerks beginnt, Reaktor Nr. 4 testweise herunterzufahren. Das Experiment war kurz unterbrochen worden, weil aus Kiew mehr Strom verlangt worden war.
26. April 1986, 0:28 Uhr: Die Leistung sackt auf unter 30 Megawatt ab. Der Reaktor wird schnell instabil.
01:23:30 Uhr: Die Leistung steigt auf über 300 000 MW. Die Temperatur steigt, das Kühlmittel verdampft.
01:23:40 Uhr: Das Personal drückt Notfallknopf A3, um die fatale Kettenreaktion zu unterbrechen – vergeblich.
01:23:43 Uhr: Brennelemente reißen, reagieren mit Wasser. Der Reaktor ist außer Kontrolle.
01:23:47 Uhr: Es kommt zum „Größten Anzunehmenden Unfall“ (GAU). Zwei Explosionen zerstören den Meiler, vermutlich ausgelöst durch riesige Mengen Wasserstoff. Das Dach reißt auf, eine nukleare Wolke breitet sich über Europa aus.
01:28 Uhr: Erste Feuerwehrleute treffen ein – ohne Schutzkleidung. Viele überleben den GAU nur um wenige Wochen

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