Ausraster über den Wolken: Pöbelnde Flugzeug-Passagiere - Gründe, Zahlen, Fälle
München - Mit so einem Donnerwetter über den Wolken hat ein Passagier auf dem Flug nach Bali sicher nicht gerechnet. Die Rede ist nicht von Turbulenzen, sondern von seiner Gattin, die zur Furie wurde. Der Grund: Während er friedlich ein Nickerchen hielt, spionierte sie heimlich sein Handy aus. So flog seine Affäre auf und der Flieger nicht mehr ans Ziel. Denn seine Partnerin randalierte und schlug so heftig auf den Mann ein, dass die Crew nichts mehr tun konnte, außer im indischen Chennai zwischenzulanden.
Fluggäste außer Rand und Band gibt es immer wieder (eine Auswahl finden Sie rechts). Eine Statistik des Dachverbands der internationalen Fluggesellschaften (IATA) zeigt, dass der IATA zwischen 2007 und 2016 weltweit über 58.000 Vorfälle mit renitenten Passagieren ("unruly passengers") gemeldet wurden. Lag die Zahl vor zehn Jahren noch unter 500, sind es 2015 bereits 10.854 Zwischenfälle gewesen. Auch wenn das Reporting durch die Airlines besser geworden sein mag, lässt die Zahl aufhorchen.
2016 ist die Rate erstmals wieder etwas gesunken: 9.837 rabiate Gäste.
In den meisten Fällen werden die Passagiere verbal ausfallend
Die meisten Fälle (87 Prozent) waren 2016 verbale Ausraster. Bei zwölf Prozent wurden die Gäste handgreiflich, bedrohend oder belästigend. Laut den Zahlen der IATA liegt es am häufigsten an Alkohol oder anderen Betäubungsmitteln. Aber nicht nur an den Getränken an Bord, sondern an Alkohol, den die Passagiere selbst in den Flieger gebracht haben.
Ausraster-Grund Nummer Zwei: Fluggäste wollen sich nicht an die Regeln halten, etwa dass sie den Gurt anlegen müssen, dass sie nicht an Bord rauchen dürfen oder ihre Handys ausschalten sollen.
Am dritthäufigsten: Zoff zwischen Passagieren. Tim Colehan von IATA sagt angesichts der Statistik, "renitente Passagiere bleiben ein erhebliches Alltagsproblem weltweit".
Lufthansa-Sprecher Jörg Waber sagte der AZ, pro Jahr verzeichne das Unternehmen derartige Vorfälle im niedrigen dreistelligen Bereich. "Wir befördern sehr viele Passagiere, da kommt das schon mal vor." Die Zahl sei aber "eher rückläufig". Zusammen mit Eurowings, Swiss und Austrian Airlines beförderte die Lufthansa im abgelaufenen Jahr 109,67 Millionen Gäste. Aggressionen an Bord sind keineswegs eine Lappalie: Wenn ein Fluggast betrunken randaliert oder die Crew belästigt, kann der Pilot aus Sicherheitsgründen die Landung veranlassen. Der Passagier trägt dann im Prinzip die Kosten dafür. "Das geht in die Zigtausende Euro", sagt Reiserechtler Ernst Führich. Kommt es zum Prozess, haben uneinsichtige Passagiere schlechte Karten. Das Argument, der Pilot habe überreagiert, zieht praktisch nie. Führich sagt aus Erfahrung: "Ich kenne keinen einzigen Fall, wo das Gericht dem Piloten nicht geglaubt hat."
Allerdings ist auch das Realität: Nur selten werden Pöbler tatsächlich finanziell belangt. Zu hohe Summen, zu lange Verfahren, zu diffizile Rechtslagen in den Ländern in denen zwischengelandet wird. Colehan von IATA schreibt: "Durch die Lücken im internationalen Recht kommen die widerspenstigen Passagiere ungestraft davon."
Drei Fallbeispiele aus der jüngeren Vergangenheit
Dezember 2017: Kein Alkohol, Frau randaliert
Eskalation auf dem Weg in die Schweiz: Eine Frau im Swiss-Flug LX1327 ist kürzlich in der Business Class von Moskau nach Zürich gereist.
Nur noch eine halbe Stunde Flugzeit hätte die Maschine gehabt, doch dann wurde ihr der Champagner verwehrt.
Als die Frau nach zig Bestellungen keinen Alkohol mehr bekam, soll sie derart randaliert haben, dass die Piloten aus Sicherheitsgründen in Stuttgart notlanden mussten. Laut der Polizei in Reutlingen wurde sie handgreiflich, die Crew konnte sie nicht mehr beruhigen.
Juni 2016: Fluggast zankt mit der Crew
US-Kampfjets sind wegen eines Streits an Bord eines Linienflugzeugs aufgestiegen und haben die Maschine bis zu einer außerplanmäßigen Zwischenlandung begleitet. Die Embraer 170 war im Dienst von Delta Airlines von San Antonio nach Los Angeles unterwegs, als es zwischen einem Fluggast und der Crew zu einer verbalen Auseinandersetzung kam. Am Flughafen von Tucson musste der Jet in Begleitung von zwei F-16 Kampfflugzeugen landen. Der Passagier wurde festgenommen. Der Flug konnte wenig später weitergehen.
Promi rastet aus: Festnahme
Prominenz schützt nicht vor Flugpannen: Paris Hiltons kleiner Bruder Conrad soll auf einem Transatlantikflug ausgerastet sein und die Fluggäste massiv beleidigt haben. Der 20-Jährige wurde auf im Flieger von London nach LA festgenommen. Laut Berichten hatte der Milliardenerbe um sich geschlagen und Fluggäste als "Bauern" beschimpft. Als ihn die Crew beruhigen wollte, soll er geschrien haben: "Ich kann in 30 Sekunden dafür sorgen, dass ihr alle gefeuert werdet." Hiltons Anwalt führte all das auf eine Schlaftablette zurück.
Kein Alkohol an Bord? "Das ist keine Lösung", sagt Thilo Deussen (kleines Bild). Fot: dpa/ho
Der 35-jährige Thilo Deussen arbeitet seit zehn Jahren als Flugbegleiter und ist Referent im Bereich Beruf und Politik bei der Unabhängigen Flugbegleiter Organisation (UFO) e.V.
AZ: Herr Deussen, laut einer weltweiten Statistik gibt es mehr rabiate Fluggäste als früher. Merken Sie das in Ihrem Alltag als Flugbegleiter?
Thilo Deussen: Es ist nicht so, dass ich mich auf jedem Flug mit einem austickenden Passagier beschäftigen muss. Aber ich habe das Gefühl, verbale Ausrutscher nehmen zu.
Hat Sie schon einmal jemand beleidigt, zum Beispiel "Arschloch" genannt?
Ja, das kommt schon mal vor.
Wie reagieren Sie darauf?
Es ist die feinfühlige Kunst, die Situation schnell richtig einzuschätzen. Ist es eine echte Aggression mit Gefahr für den Flug oder – und das ist meistens der Fall – ist es einfach ein genervter Geschäftsreisender, der im Winterchaos fünf Stunden am Flughafen auf seinen Flug gewartet hat. Aus seiner Sicht bin ich als Mitarbeiter der Fluglinie dafür verantwortlich. Und da kommt dann schon einmal "Ihr seid alle Volldeppen" oder "Scheiß-Verein." Aber das darf man nicht persönlich nehmen.
Flugverspätungen sind das eine Aggressions-Potenzial. Was sind weitere Auslöser?
Die Rückenlehne! Stellen Sie sich vor: Sie sitzen als 1,90 Meter großer Mann in der Economy-Class. Der Fluggast vor Ihnen macht die Rückenlehne so weit zurück, wie es nur geht. Dann kann es schon mal passieren, dass der große Passagier an der Lehne zu rütteln beginnt oder sie nach vorne drückt. Das ist der klassische Eskalationsfall. Die Crew wird in so einer Situation versuchen, zu deeskalieren.
Und wie?
Zum Beispiel, indem man einem der beiden Passagiere einen anderen Platz anbietet. Oder indem man mit souveränem Auftreten sagt: "Überlegen Sie sich bitte, was Sie hier gerade tun." Es kommt aber immer auf die einzelne Situation an. Manchmal kann auch helfen, wenn man beiden ein Glas Sekt anbietet und sie erst einmal auf den Flug anstoßen lässt und vielleicht noch ablenkt: "Haben Sie den neuesten Film schon gesehen?"
Und wenn sich ein Fluggast nicht beruhigen lässt?
Dann machen wir deutlich, dass er den Anweisungen der Crew zuwiderhandelt. Das ist ein klarer Verstoß gegen den Beförderungsvertrag und gegen das Luftfahrtgesetz. Formal gesehen ist das ein gefährlicher Eingriff in den Luftverkehr. Diese Handvoll Fälle sind es, die nach der Landung von der Polizei abgeholt werden und für die es auch eine Strafanzeige geben kann.
Wenn der Flieger nicht mehr weit hat, mag das Deeskalieren klappen. Was aber, wenn Sie gerade über dem Atlantik unterwegs sind?
Unsere Möglichkeiten können so weit gehen, dass wir – wir haben die staatliche Hoheitsgewalt an Bord – einen Passagier mit Handschellen fesseln können.
Soll das heißen, jedes Flugzeug hat Handschellen dabei?
Ja, so ist es. Bei Millionen von Passagieren kommen die schon mal zum Einsatz. Aber diese Fälle sind in Deutschland wirklich im niedrigen zweistelligen Bereich pro Jahr.
Ist im Ernstfall auch eine Zwischenlandung möglich?
Einer guten Freundin von mir ist das einmal passiert auf dem Flug von Frankfurt nach Johannesburg. Ein betrunkener Seemann ist aggressiv geworden und dann mussten sie in Afrika zwischenlanden. Die lokale Polizei hat den Mann dort abgeholt, das Flugzeug ist danach weitergeflogen.
Was kostet so etwas?
Die Kosten liegen auf jeden Fall im fünfstelligen Bereich, je nach Flugzeugmodell und Strecke.
Kann dafür ein Passagier überhaupt haften?
Nun, es gibt auch wohlhabende Passagiere, die ausflippen.
Welche Rolle spielt Alkohol?
Der Klassiker ist: Ein Passagier hat vorher schon etwas getrunken, vielleicht auch, weil er Flugangst hat. Diese Passagiere sind gestresst und nervös. Bei der Lufthansa oder auch bei AirFrance gibt es Alkohol kostenlos an Bord – das hat auch den Hintergrund, die Kontrolle über den Alkoholkonsum der Fluggäste zu behalten. Das heißt, die Flugbegleiter können entscheiden, dass ein Gast keinen Wein mehr bekommt. Verboten ist es, die Flasche Schnaps vom DutyFree an Bord zu trinken.
Was halten Sie von einem Alkohol-Verbot an Bord?
Das ist keine Lösung. Von 100 Gästen, die ein Glas trinken möchten, benehmen sich 99. Das wäre ein Pauschalverbot.
Was war Ihr bislang schlimmster Vorfall?
Das war ganz am Anfang meiner Karriere: Ein Fluggast hatte Zahnschmerzen und schon eine Handvoll Schmerztabletten genommen. An seinem Sitzplatz haben wir später auch noch eine leere Flasche Wodka gefunden. In der Zwischenzeit hatte er an Bord zusätzlich Bier bestellt. Dieser Passagier hat dann rumgeschrien und sich über zwei Reihen hinweg erbrochen – in einem ausgebuchten Flieger. Aufgrund von Hitzewallungen hat er sich im Anschluss bis auf die Unterhose ausgezogen. Ich musste den Mann wieder anziehen, anschnallen und beruhigen.
War das nicht abschreckend?
Ich habe mir damals gedacht: Wenn das jetzt jeden Monat vorkommt, bin ich ganz schnell wieder weg. Aber in den letzten zehn Jahren ist so etwas nicht mehr passiert.
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